Kontinental '25
Die Gerichtsvollzieherin
Alles beginnt im Wonderland Dino-Park des rumänischen Cluj, während ein vor sich hin schimpfender Alter mit Plastiktaschen Pfandflaschen und Pilze sammelt und animierte Saurier den Wald beleben. Schon dieser Gegensatz verrät mit zwiespältiger und hintergründiger Komik die Gegensätze in der Bilderwelt und in der postkommunistischen rumänischen Gesellschaft.
Orsolya und die Dinosaurier
Eine Frau durchlebt die verrückte Welt
Immer wieder muss die Gerichtsvollzieherin Orsolya Ionescu (Eszter Tompa) ihre Geschichte von Neuem erzählen, dem Chef, der Freundin, der Mutter, einem ehemaligen Studenten und einem Geistlichen: wie der Obdachlose sich in seiner Kellerbehausung stranguliert, sie den Mann mit aufgerissenen Augen im eigenen Urin aufgefunden hat, obwohl sie für eine Fristverlängerung bei der Immobilienfirma Westeuropa K. u. K. gekämpft und die Zwangsräumung um einen Monat aufgeschoben hatte. Die Schuldgefühle lassen sich nicht wegdiskutieren, auch wenn alle versichern, dass sie für die Tragödie nicht verantwortlich sei, am Schluss endet ihre Beichte immer gleich: «Rechtlich bin ich unschuldig, fühle mich aber schuldig.» Wieder einmal ist es eine Frau, die die Krise durchsteht, kein Mann...
Im Zentrum von «Kontinental ‘25» steht eine gesellschaftliche Krise, abgelagert in Zuständen wie Ungleichheit, Bauboom, Vertreibung, Überwachung, Nationalismus. Die langen Gespräche sind mit diesen Themen festgemacht in Cluj, einer Stadt in Siebenbürgen, die bei uns am ehesten die Fussballfans kennen. Streift man durch die Strassen des nahen Bukarest, wird man erschlagen von der Heterogenität: Reste der historischen Altstadt stehen neben totalitären Prunkbauten Ceaușescus und gläsern-stählernen Tempeln des Kapitalismus.

Allein gelassen mit ihrem Gewissen
Aus dem Ärmel gefilmt
Formal wirkt der Film wie zufällig: meist mit statischen Einstellungen und minimalem Aufwand in zehn Tagen mit der iPhone-15-Kamera gedreht. Die formale Beschränkung steht für eine Rückbesinnung auf das Kino Lumière und die basalen Kategorien des Filmemachens.
Die Inspiration zum neuen Film erhielt Radu Jude von Roberto Rossellinis «Europa 51». Auch im Klassiker des italienischen Neorealismus wird ein Todesfall zum Auslöser einer Suche nach sinnstiftenden Antworten. Ingrid Bergman spielte eine wohlhabende, egozentrische Dame der römischen Gesellschaft, die nach dem schockierenden Tod ihres kleinen Sohnes von Schuldgefühlen geplagt wird und schliesslich zu einem radikalen Humanismus findet. Um ihre Trauer zu verarbeiten und ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, beschliesst sie, Zeit und Geld den Armen und Kranken zu geben. Der Rumäne hingegen richtet sich im Gegensatz zum Italiener gegen eine gesellschaftliche Gegenwart, die auf den Strukturen der spätkapitalistischen Grossstadt im alltäglichen Gegeneinander auf ein moralisches Vakuum zusteuert. Er beschreibt einen Gegenentwurf. In «Kontinental ‘25» wird nicht gebetet, hier wird gestritten. Nationalismus und Wohnungsnot, orthodoxe Moral und Internetmüdigkeit, Rassismus und liberale Heuchelei werden verhandelt, und nichts wird gelöst. Rossellini glaubte noch an die Katharsis durch Mitgefühl, Jude nur noch an die endlose Wiederholung der in die Irre führenden Widersprüche.
Die iPhone-Bilder ruckeln schon mal und werden mittendrin nachfokussiert, Kameramann Marius Panduru verzichtet auf eine klassische Komposition und setzt auf scheinbar authentische Beiläufigkeit. Während der Italiener in den Nachkriegsjahren das Kino noch als moralisches Erweckungsinstrument verstand, zeigt der Rumäne, dass heute selbst die Bilder banal geworden sind und lügen können. Unterhalten und hinterfragt wird in dieser sozialpolitischen Allegorie in einem gelungenen Gleichgewicht zwischen Komödie und Drama. An der Berlinale 2025 erhielt er für das Drehbuch den Silbernen Bären.
Vor der Nacht mit ihrem früheren Studenten
Hommage und Provokation
Mit effizienter Knappheit skizziert Jude das Bild einer «kontinentalen» Gegenwart, die von Ausschlüssen und Ungleichheiten geprägt wird, in die man unweigerlich verstrickt ist, wenn man sich als Mensch mit Einkommen und einem Dach über dem Kopf in den öffentlichen Raum begibt. Strassencafés, Bankgebäude und Konzertbühnen sind Orte, die der Bettler stört, so dass man ihn möglichst schnell loswerden will. Als er an einem Brunnen seine Flasche mit Wasser füllen will, muss er sich sogar gegen einen patrouillierenden Roboterhund zur Wehr setzen.
Der Film nimmt Orsolyas Not ernst, spricht sie aber nicht frei. Denn sie versuchte, ihren Job gut zu machen und dabei menschlich zu bleiben. Als staatliche Beamtin vertrat sie auch die Interessen von Gläubigern, in diesem Fall einer deutschen Immobilienfirma, die das alte Gebäude für ein pompöses Hotel abreissen lassen liess. Nach dem Suizid des Mannes fallen die Medien über sie her, wobei die Empathie für den Toten nur vorgeschoben ist. Als Angehörige der ungarischen Minderheit wird sie zum Ziel nationalistischer Hasstiraden. Der Regisseur legt mit Orsolyas Parcours durch die Stadt historische und emotionale Schichten frei: Gebäude aus der Zeit der Habsburgermonarchie, sozialistische Plattenbauten, wie in China sich ausbreitende gesichtslose Wohnanlagen sowie Denkmäler von Nationalhelden, Königen und Fürsten und Kämpfern gegen den Kommunismus.
Auch das Vaterunser hilft nicht weiter
Die Komplexität und Absurdität
Auf den ersten Blick könnte man den Film als Satire über das postkommunistische Rumänien verstehen. Jude selbst sieht es jedoch anders: «It’s Less a Satire and More a Reflection of the Absurdity and Complexity of Human Reactions». Die Beiläufigkeit seiner messerscharfen Beobachtungen über den Zustand seines Heimatlandes trifft gerade durch seine Beschränkung den Nerv und macht die Geschichte aktuell, diagnostisch und dringlich.
Interessant und für das Weiterdenken vielleicht fruchtbar sein könnte der Vergleich des rumänischen Films mit der Kunst des rumänische Bildhauer Constantin Brâncuși, einem der Begründer einer anderen Moderne, und dem rumänische Schriftsteller Eugène Ionesco, einem Grossen des absurden Theaters. Vielleicht ist es ja wirklich die Absurdität, die die Situation in Rumänien und in der heutigen Welt am besten zu umschreiben vermag.
Die bewegte Geschichte Transsilvaniens, das wie ein Spielball zwischen verschiedenen nationalen Ansprüchen hin- und hergereicht wurde, erweist sich als Parallele zu den eingeflochtenen heutigen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Gaza. Der Film schildert insgesamt ein grossartiges Panoptikum menschlicher Verhaltensweisen, die nicht nur in Rumänien, sondern «kontinental» zutreffen, was uns Radu Jude als fröhlich vagabundierende Anarchie mit ungewissem Ausgang aufleben lässt.