La memoria del agua

Vom Geheimnis der Liebe: Was ist das: eine tiefe menschliche Beziehung? Der Chilene Matías Bize bleibt in «La memoria del agua» dem Thema seiner früheren Filme treu und gibt eine Antwort. Grossartig gestaltet und bewegend: ein Meisterwerk!
La memoria del agua

Amanda und Javier

Ein Augenblick nur, eine kleine Ablenkung, kann ein Leben verändern, eine Beziehung zerstören. Javier und Amanda verlieren ihr Kind im Pool vor dem Haus. Sie sieht im Gesicht ihres Mannes jenes ihres toten Jungen, erträgt ihn deshalb nicht mehr, zieht aus. Er wehrt sich, ebenfalls leidend, versucht, weiter zu leben in der Hoffnung, sie zurückzugewinnen, dass ein neuer Anfang möglich wird. Der Chilene Matías Bize erzählt auf beeindruckende Weise vom Abschiednehmen und davon, wie kostbar und wie anspruchsvoll menschliche Beziehungen sind. Die Liebe ist wohl am meisten gefordert, wenn ein Paar, wie dieses, einen Schicksalsschlag zu überwinden hat. Was zählt dann?

Kurz nach dem Unfalltod des vierjährigen Pedro setzt die Geschichte von «La memoria del agua» ein und dreht sich, mit Feingefühl und Eindringlichkeit gestaltet, um die Liebe des bisher glücklichen Paares. Jetzt sind sie, gegen ihren Willen, mit einem Mal wieder allein in ihren vier Wänden. Um Distanz zu gewinnen, konzentriert sie sich auf ihren Beruf als Dolmetscherin, Javier auf seinen als Architekt. Ab und zu kreuzen sich ihre Wege, sei es bei gemeinsamen Freunden oder wegen Formalitäten, die zu regeln sind. Während Javiers Türen für einen Neubeginn weit offen stehen, wendet sich Amanda von ihm ab und, durch die zufällige Begegnung mit ihrem Ex, einer neuen Beziehung zu. Eines Tages lässt eine Laune der Natur – ein magischer Moment, ein unerwarteter Schneefall – in beiden die Erinnerung an den verstorbenen Pedro so intensiv aufleben, dass Javier und Amanda sich aufsuchen und auf einem Ausflug in den Süden sich wieder näherkommen. Endlich beginnen sie das Erlebte und ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ob das nun ein zarter Neubeginn, das definitive Ende oder ein Schritt in eine Weiterentwicklung ist, liegt in den Augen des Publikums.

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Gespräch in der Krise

Eine Filmografie über den Planeten Liebe

Was könnte eine stabile Paarbeziehung in ihren Grundfesten erschüttern und sie urplötzlich einstürzen lassen? Wie überwinden zwei Menschen gemeinsam eine solch tiefe Krise? Ist die Liebe am Ende immer stärker? Dass der Filmemacher Matías Bize in «La memoria del agua» diese Fragen aufwirft, erstaunt nicht, wenn man sein filmisches Oeuvre betrachtet. All seine Werke kreisen um das eine Thema: den Planeten Liebe, mal witzig verspielt, mal sentimental melancholisch, mal existenziell intensiv, immer jedoch ganz nah bei den Menschen, packend inszeniert, innere Realitäten ausleuchtend, fokussiert auf grosse Momente des Lebens.

Matías Bize, 1979 in Santiago de Chile geboren, hat die dortige Filmhochschule absolviert. Nach verschiedenen Kurzfilmen während der Ausbildung, realisierte er mit 23 Jahren seinen ersten Spielfilm, «Sábado» (Samstag, 2003). Diese in Echtzeit gedrehte Tragikomödie über eine in letzter Minute abgesagte Hochzeit gewann am Filmfestival Mannheim-Heidelberg den Rainer Werner Fassbinder Preis. Die Handlung seines zweiten Films «En la cama» (Im Bett, 2005) entwickelt sich mit nur zwei Darstellern in einem Hotelzimmer und in einer Nacht. Der Film gewann am Filmfestival Seminci in Valladolid den Hauptpreis. Bize führt seine feinfühligen Betrachtungen des Paarlebens im dritten Spielfilm «Lo bueno de Ilorar» (Weinen tut gut, 2007) weiter, in dem er sich mit dem Ende einer Beziehung auseinandersetzt. Für «La vida de los peces» (Fremd wie ein Fisch, 2010), über das Wiedererwachen einer alten Liebe, verlieh ihm die spanische Filmakademie den Goya für den besten lateinamerikanischen Spielfilm. 2012 wurde er eingeladen, am Berlinale Residency Programm teilzunehmen, um seinen fünften Spielfilm, «La memoria del agua» (Das Gedächtnis des Wassers), zu entwickeln. Am Festival de Cine Iberoamericano de Huelva wurde Bize für dieses Werk als bester Regisseur und am Santiago Festival Internacional de Cine die weibliche Protagonistin Elena Anaya als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Auf die Frage, was die Hauptmotivation sei, um immer wieder von der Liebe zu sprechen, meint Bize: «Grundsätzlich muss es eine Geschichte sein, die einen Bezug zu mir hat. Wenn ich einen neuen Film mache, schaue ich zuerst, wie es in meinem Inneren aussieht und wovon ich sprechen möchte. Das hat bis jetzt gut funktioniert. Beziehungen sprechen mich an und berühren mich, ebenso die Welt, mit der ich Erfahrung habe und in der ich lebe. Ich versuche etwas zu thematisieren, das ich kenne, um mit grösserer Wahrhaftigkeit zu erzählen.» (Das ganze, höchst interessante Interview, in dem diese Antwort steht, ist der Besprechungen als PDF angehängt.)

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Amanda hält Javier nicht mehr aus

Von der himmlischen Liebe ...

Aus der Zeit des «Renouveau catholique», der philosophischen, sozialkritischen und literarische Bewegung des letzten Jahrhunderts sind verschiedene emphatische und ekstatische Hymnen auf die eheliche Liebe bekannt. Bei Paul Claudel vor allem, aber auch bei Gertrud von Le Fort, Edzard Schaper, Franz Werfel, Graham Greene und dem Maler Georges Rouault. Solchen überhöhten und überschwänglichen, religiös und mystisch verklärten Hymnen auf die Liebe können und wollen heutige Menschen kaum mehr etwas abgewinnen. Als Überforderungen haben diese wohl auch schon zwischenmenschliche Beziehungen behindert oder zerstört – weil sie nicht lebbar sind.

Womit uns Matías Bize in seinem Werk konfrontiert, sind andere Bilder der Liebe, auch wenn sein ganzes Oeuvre fast ausschliesslich um die Liebe zwischen Mann und Frau kreist. Weder überhöht, noch religiös vereinnahmt oder mystisch verklärt sind seine Bilder und Geschichten der Liebe, sondern alltäglich, nachvollziehbar, fein empfunden und eindringlich – menschlich lebbar. «La memoria del agua», an dem er mit einem verschworenen Künstlerteam fünf Jahre lang gearbeitet hat und in dem zwei aussergewöhnliche Hauptdarsteller spielen, Elena Anaya als Amanda und Benjamín Vicuña als Javier, ist beispielhaft.

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Janvier wartet auf Amanda

... zur menschlichen Liebe

Die Grösse des Films «La memoria del agua» hat Gründe. Schön umschrieben sind sie in einer These des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balàsz: «Der Film kennt kein "rein Äusserliches" und keine "leere" Dekorativität. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.» In diesem Sinn sind wir eingeladen, zu sehen, zu hören, zu spüren, zu denken: wahrzunehmen.

Nach etwas mehr als einer Stunde des Films, als Javier und Amanda sich wieder treffen, beginnt ein Gespräch, bei welchem jedes Wort Bedeutung hat. Hier einige Sätze als Lesehilfe: Amanda erinnert sich an die Zeit, bevor Pedro gestorben war und sie glücklich waren. Wenn sie jetzt wieder glücklich würden, hiesse das, Pedro auslöschen. Das aber will sie nicht, ihr Kind nicht ein zweites Mal verlieren. Manchmal wacht sie nachts auf und schaut nach Pedro. Auf halbem Weg realisiert sie, dass er nicht mehr da ist, steht dann wie versteinert, weiss nicht, was tun, will nicht mehr zurück, nur stehen bleiben, für immer in der Schwebe. Es ist gut, diese Leere zu fühlen, meint sie, weil Pedro dann präsent ist.

Javier: Niemand will ihn vergessen. Wir haben Pedro schon verloren. Verlieren wir nicht auch noch uns. Vielleicht gibt es einen Plan. Vielleicht schickte Pedro den Schnee, um zu sagen, dass wir nicht allein sind, dass wir zusammengehören. Amanda: Es schneite wegen einer Kaltfront, es gibt keinen Plan, wir sind allein, Javier. Allein im Universum, und niemanden kümmerts einen Dreck. Wir sind alle verloren, treiben dahin, warten, bis ein Vater uns rettet. Es ist eine Lüge, da ist keiner, wir bedeuten niemandem was. Javier: Du bedeutest mir etwas. Es gibt einen tieferen Sinn. Amanda: Nein, mein Schatz. Es gibt keinen Sinn. Ich habe mein Kind nicht mehr. Das ist alles, was zählt im Universum. Langes Schweigen, Musik und eine Schlussszene mit Javier, mit der der Film von Matías Bize endet und unser Film beginnt ...

Regie: Matías Bize, Produktion: 2015, Länge: 88 min, Verleih: trigon-film