La petite chambre

Am 12. März 2011 wurde der Film«La petite chambre» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond als «bester Schweizer Spielfilm» und für das «beste Drehbuch» ausgezeichnet. Absolut verdient!

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Eine Hommage

Nach mehr als fünfzig Jahren Filmkritiken Schreiben habe ich bei «La petite chambre» zum ersten Mal das Bedürfnis, diesen Film mit Lob zu überhäufen und zu empfehlen, ohne auch nur im Ansatz seine Geschichte zu erzählen. Warum dieses ungewohnte Vorhaben? Weil ich niemandem die Freude an den Entdeckungen und die Lust an den Überraschungen verwehren möchte, die der Film den Zuschauenden in fast jeder Sequenz, jeder Einstellung, jedem Schwenk, jedem Schnitt erleben lässt. Nur wenige Filmgeschichten sind dermassen unvorhersehbar, nehmen einen von Minute zu Minute mit und lassen einen die Geschichte selbst nacherfinden wie diese. Darum halte ich mich mit meiner Prosa zurück, räume meinen Platz der Poesie dieses wunderbaren Films.

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Nur selten spielt eine Geschichte auch solcher Art intensiv auf den Gesichtern der Protagonisten wie hier: bei einem der ganz Grossen des französischen Kinos, Michel Bouquet, und gleichermassen bei der jungen Florence Loiret Caille. Wir erleben zwei Geschichten erzählende Gesichter, deren Mimik und Gestik zu folgen fasziniert und berührt. Allein schon der Vergleich ihres Spiels am Anfang und am Schluss frappiert.

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Die Geschichte wird mit den Landschaften und dem Dekor ein zweites Mal erzählt: Bildern vom Ende des Winters im Übergang zum Frühling, parallel zur Entwicklung eines alten Mannes und einer jungen Frau. Es sind die Landschaften, in denen die Autorinnen leben, die sie kennen, in die sie uns von der ersten Einstellung bis zu den letzten Sequenzen eintauchen und von deren Stimmungen gefangen nehmen lassen. Dem hohen Standard der Protagonisten angemessen sind auch die Nebenrollen, die Kameraarbeit von Pierre Milon, die Musik von Empre Sevindik, der Schnitt von Thierry Faber und Marie-Helene Dozo. Kein Detail scheint mir überflüssig oder falsch.

Der Film ist voll Leben, voll Welt, was ihn weit über das Niveau des üblichen «Problemfilms» hebt. Hier haben wir es wieder einmal mit Filmkunst zu tun, die zudem beim ersten Mal verständlich ist, wenn sich auch bei einem zweiten Sehen wohl immer neue Feinheiten offenbaren dürften.

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Nur soviel sei verraten: Es geht um das Alter in der Person von Edmond. Damit krönt «La petite chambre» die lange Reihe der aktuell in den Kinos gezeigten Altersfilme: «Mammuth» von Benoit Delépine und Gustave von Kervern, «Small World» von Bruno Chiche, «Satte Farben vor Schwarz» von Sophie Heldman, «Another Year» von Mike Leigh, «Welcome to the Riley» von Jake Scott, «Das Ende ist mein Anfang» von Jo Baier, «La tête en friche» von Jean Becker, «En familie»  von Pernille Fischer Christensen und «La dernière fugue» von Léa Pool.

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Weiter sei verraten: Es geht um die Jugend in der Person von Rose. Doch da der Film den Bogen in höchst gekonnter Weise von der Jugend zum Alter spannt und die beiden Enden des Lebens einander sich begegnen lässt, handelt der Film eben von mehr: vom Leben, dessen Grundbefindlichkeiten, Grundbedürfnissen, Grundbedingtheiten und wie Menschen damit umgehen. Ein das ganze Leben, von der Geburt bis zum Tod, umspannender Film ist den beiden welschen Autorinnen gelungen: berührend, ohne rührselig, traurig, ohne trostlos, fröhlich, ohne oberflächlich zu sein.

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Zwei Anmerkungen des Regieduos

Stéphanie Chuat und Véronique Reymond arbeiten als Duo in der Theater- und Filmwelt. Als ausgebildete Theaterschauspielerinnen haben sie knapp ein Dutzend Stücke inszeniert. Sie haben fünf Drehbücher für Kurzfilme geschrieben und fürs Kino verfilmt sowie zwei Dokumentarfilme gedreht. «La petite chambre» ist ihr erster langer Spielfilm.

Wie arbeiten Sie als Zweierteam?

Florence Loiret Caille (die weibliche Hauptdarstellerin) hat uns den Spitznamen «zweiköpfiger Adler» gegeben, was uns sehr gefällt. Für andere sind wir ein zweimotoriges Flugzeug... Wir kennen uns seit der Kindheit und sind zusammen gross geworden. Wir haben unsere Arbeitsbeziehung nie verbalisieren müssen, denn sie ist auf intuitive und empirische Weise durch alle unsere Kunstprojekte entstanden. Wir schreiben mit vier Händen und arbeiten auch so auf der Bühne mit den Schauspielerinnen und -spielern und den Technikteams zusammen. Wenn die eine mit dem ersten Kameramann diskutiert, redet die andere mit den Schauspielerinnen und -spielern oder umgekehrt, je nach zu drehender Szene. Da wir mit vielen Arbeitspartnern und -partnerinnen kommunizieren müssen, sprechen wir uns auf jeden Fall ab – manchmal genügt ein Blick –, damit wir mit einer Stimme auftreten können.

Sie beide sind Bühnenschauspielerinnen. Nützt Ihnen das für die Regiearbeit?

Ja, wir versetzen uns in die Situation des Schauspielers oder der Schauspielerin vor der Kamera, wir kennen seine Ängste bei einer schwierigen Szene, denn wir haben das ja alles auch einmal erlebt. Es ist schwierig, Theater zu spielen, dessen sind wir uns aus eigener Erfahrung bewusst. Deshalb suchen wir– ohne irrezuführen – den besten Weg, der den Schauspieler und -spielerinnen ermöglicht, sich zu öffnen und den Kern der Figur zu entfalten. Wir spornen sie an und geben nicht nach, bis wir zufrieden sind, denn wir wissen, dass Schauspieler und -spielerinnen Herausforderungen lieben. Und Zwang ist eine exzellente Motivation, der paradoxerweise die Kreativität befreit. Das Gelingen einer Szene hängt von der Interaktion der Figuren ab, vom Band, das sich zwischen ihnen bildet. Eine Szene existiert nur durch die – auch nonverbale – Beziehung von einer Person zur anderen. Glücklicherweise haben sich Michel Bouquet und Florence Loiret Caille beim Drehen von «La petite chambre» gefunden.

www.lapetitechambre.ch