Le gamin au vélo

Auf der Suche nach dem Vater

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Film. Gelegentlich finden Lehrpersonen mit dem besten Willen bei einem Kind keinen Zugang, werden abgelehnt, erfahren Gewalt und sind absolut hilflos auch angesichts offenkundigen Elends. Von einem solchen Jugendlichen handelt der preisgekrönte Spielfilm «Le gamin et au vélo», handeln alle Werke des belgischen Filmerpaares Jean-Pierre und Luc Dardenne. Vielleicht können solche Filme aus jener Welt auch im einen oder andern Fall bei uns etwas helfen.

In «Le gamin au vélo» hat Cyril, ein Junge etwa fast zwölf Jahren (erschütternd authentisch dieser Thomas Doret!), nur einen Wunsch: Er möchte zu seinem Vater zurück, der ihn auf unbestimmte Zeit in einem Kinderheim untergebracht hat. Auf seiner hektischen Suche begegnet er zufällig Samantha, der Besitzerin eines Coiffeursalons (differenziert verkörpert von Cécile de France, der einzigen professionellen Schauspielerin auf dem Set). Sie ist bereit, den Jungen wie eine Ersatzmutter an den Wochenenden bei sich aufzunehmen. Doch er kann die ihm entgegengebrachte Wärme nur schwer annehmen. Er gerät in schlechte Gesellschaft, und sie stösst an ihre Grenzen. Dabei spielt auch noch ein Fahrrad eine Rolle, das an «Ladri di biciclette» von Vittorio de Sica und dessen neorealistischen Humanismus erinnert.

Erfüllt von innerer Dramatik erzählten die Autoren die aufwühlende Geschichte eines jungen Menschen, der verzweifelnd sein Glück sucht. Wie die Geschichte zu lesen ist, darauf verweist die Musik: Sie hebt den Film ins Allgemeingültige: Ähnlich wie einst Robert Bresson mit Mozart-Musik bei «Pickpocket» aus einem Krimi ein Mysterienspiel schuf. Viermal hört man in «Gamin au vélo» Klänge aus dem fünfte Klavierkonzert von Beethoven, immer dann wenn Cyrill übergangen, verlassen, abgelehnt, vernichtet wird. Damit übersteigt der Film die Psychologie und wird zur Parabel der Conditio humana.

Die Sozialarbeiter des Kinos

Die Gebrüder Dardenne (1951 und 1954 geboren) haben in den letzten fünfzehn Jahren ein Oeuvre geschaffen, das sie zu den wichtigsten Vertretern des belgischen Kinos und zu den anerkanntesten, vielfach ausgezeichneten Regisseuren weltweit aufsteigen liess. Die wichtigsten Werke dieser Sozialarbeiter des Kinos waren «La promesse», die Flüchtlings-Parabel am Rand des Legalen, «Rosetta», das Tochter-Mutter-Drama bei den Armen, «Le fils», das Vater-Sohn-Melodrama, «L’enfant», das Familien-Spiel junger Eltern und Sozialhilfeempfänger. Filme, die wie «Le gamin au vélo» immer hautnah und in Grossaufnahmen, mit schnellen Schnitten und oft mit der Handkamera die innere Gehetztheit der Protagonisten zur Darstellung bringen.

Das alles geht unter die Haut, fährt in unseren Körper ein. Filme wie diese sensibilisieren die Augen und Ohren und öffnen schliesslich die Herzen für die «Verdammten dieser Erde», die es auch bei uns gibt. Für jene Menschen, die unglücklich durch alle Maschen der Sozialnetze gefallen sind und jetzt leiden. Auch wenn einem Kind bei uns vorerst nicht geholfen werden kann, sollte sein Leid zumindest im erlebt und so wahr genommen werden. Die Lehre daraus ist die gleiche, die wir aus den Märchen ziehen: über das Mit-Leid zum Mit-Sein, was doch der Anfang eines neuen Lebens werden kann.

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