Le passé
Auf Bitten seiner französischen Noch-Ehefrau Marie (Bérénice Bejo) kommt Ahmad (Ali Mosaffa) vier Jahre nach der Trennung von Teheran nach Paris, um die Scheidung formell abzuschliessen. Sie lebt dort bereits mit ihrem neuen Liebhaber Samir (Tahar Rahim) zusammen. Schnell spürt Ahmad, dass die Beziehung zwischen Marie und ihrer Tochter Lucie (Pauline Burlet) angespannt ist. Sie versucht, die Spannungen abzubauen. Doch dabei kommt ein Geheimnis aus der Vergangenheit an die Oberfläche.
Marie und Ahmad, das Noch-Ehepaar auf dem Weg zur Scheidung.
… als Duo
Der iranische Regisseur Asghar Farhadi beginnt seinen Film «Le passé» am Pariser Flughafen. Während Marie Ahmad sofort erblickt, braucht er lange, bis er sie sieht. Kurz danach stehen sie sich gegenüber, wechseln durch eine Trennscheibe die ersten Worte. Sie hören nicht, was der andere sagt, verstehen sich aber dennoch. Doch wenn es zwischen ihnen je ein Einverständnis gegeben hat, jetzt ist es weg, wenn auch eine Vertrautheit sie für immer verbindet. Eigentlich banal die Story: Zwei Menschen, die seit Jahren getrennt leben, er im Iran, sie in Frankreich, sind einverstanden, vor Gericht den Schlussstrich unter ihre Beziehung zu ziehen.
Bereits die Szene dieser Wiederbegegnung ist ein Meisterwerk, das den Zuschauern nahe geht, durch seine psychologischen Analyse und seine filmischen Umsetzung. Da gibt es im Untergrund noch viel zwischen den beiden. Die himmlisch-höllische Kommunikation, die es zwischen zwei Menschen geben kann, war mir noch nie so bewusst wie in diesem Film und in seinem Vorgänger «A Separation» des gleichen Regisseurs aus dem Jahr 2011.
«Mach einen klaren Schnitt», rät Ahmad ein Freund. Doch es fällt schwer, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, denn sie ist in der Gegenwart enthalten. Farhadis Antwort auf die Frage, wie er die Geschichte entwickle, lautet: «Alle meine Geschichten sind nicht-linear. Ihre Handlung geht nicht von Punkt A zu Punkt B. Ich habe immer mehrere Geschichten, die ich parallel entwickle und die irgendwo zusammenlaufen. Hier hatte ich die Geschichte eines Mannes, der bereits seit einigen Jahren getrennt von seiner Frau lebt und jetzt zurückkehrt, um die Scheidung abzuschliessen. Dann hatte ich die Geschichte eines Mannes, dessen Frau im Koma liegt und der sich um sein Kind kümmern muss. Das sind Elemente, die sich separat entwickeln, aber schliesslich irgendwo zusammenlaufen. Ich schreibe intuitiv. Ich beginne mit einer Synopsis und hinterfrage diese sofort. So versuche ich, mehr über die wenigen Informationen herauszufinden, die ich habe. Ich weiss, dieser Mann ist zurückgekommen, um sich scheiden zu lassen. Also frage ich mich: Warum ist er vor vier Jahren gegangen? Und was wird passieren, jetzt, da er zurück im Haus seiner Frau ist? Diese wenigen Zeilen werfen so viele Fragen auf, dass durch die Antworten darauf eine ganze Geschichte entsteht.»
Samir, Maries neue Geliebter, wird mit einer alten Geschichte konfrontiert.
… als Trio
Mit dem Auftauchen von Maries neuem Geliebten Samir, von dem sie ein Kind erwartet, von dem Ahmed jedoch nichts weiss, führt die Geschichte auf eine neue Ebene. Wie viel Vergangenheit schwelt noch in der neuen Beziehung? Und dies wird durchgespielt in eine Drehbuch, das nichts auslässt, weder die Ober- noch die Untertöne, weder die Worte noch die Gesten, die aus dem Schweigen auftauchen und wieder dorthin verschwinden. Beim Versuch, die Beziehungen zu ordnen, geraten Marie, Ahmad und Samir in ein Tohuwabohu der Gefühle, das sich kaum entwirren lässt. Marie lebt mit zwei Töchtern aus einer früheren Ehe. Bei ihnen wohnt ein kleiner Junge, der Sohn von Samir. Und dessen Frau liegt nach einem Suizidversuch im Koma. Das alles wurde grossartig verfilmt: Jede Einstellung stimmt, Bildausschnitte, Kamerabewegungen, Lichtführung, Ton- und Musikeinsatz und vor allem die grossartigen Schauspieler und das perfekte Drehbuch.
Lucie, die Tochter von Marie, weiss mehr als sie und die Erwachsenen verkraften können.
… als Quartett
Und noch in eine weitere Dimension stösst die Geschichte durch Lucie, die Tochter von Marie, die an diesem Beziehungschaos leidet und gleichzeitig mehr weiss als die andern. Ihr Wissen verwickelt die Menschen in ein diabolisches Spiel, das den jungen Menschen kaum verkraften kann, und die Erwachsenen an ihre Grenzen bringt. Marie bittet Ahmad, sein gutes Verhältnis zu Lucie zu nutzen, um herauszufinden, was sie gegen ihren neuen Mann hat. Mit seiner ruhigen und besonnenen Art wird er zum Katalysator des schwelenden Konflikts. Doch dieser gründet tiefer, als er anfangs vermutet wurde. Bei den Erwachsenen entstehen Zweifel und Verunsicherung, bei den Kindern fast unerträgliche Ängste.
Der Kern seiner Geschichte ist – wie schon bei seinem weltweiten Erfolgsfilm «A Separation» – die Familie im Zustand der Trennung respektive Scheidung. Deshalb mag Asghar Farhadi auch Ingmar Bergman und Henrik Ibsen so gern, die beiden grossen Seelenschilderer aus dem Norden. Dieser Hinweis erspare ihm lange Erklärungen darüber, in welcher Konstellation seine Erzählung spielt, meint er. Schließlich habe jeder eine Familie, kennt jeder Beziehungen zwischen Mann und Frau und mit Kindern.
… und als ganzes Orchester
Der Filmemacher betrachtet dieses Patchwork als organisches Ganzes, dem er bis in die feinste Kapillare nachspürt. Er will wissen, wie alles im Innersten zusammenhängt: unser menschliches Zusammenleben, in seiner undurchdringlichen Komplexität. Mit «Le Passé» hat er ein Meisterwerk über unseren Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart geschaffen. Ähnlich verhält es sich bei seinem früheren Film «A Separation», in welchem er eine Trennung durchspielt, nicht mit dem gleichen Paar wie hier, doch in einer ähnlichen Konstellation und in einem ähnlichen Umfeld. Verdientermassen wurde der Film weltweit mit über siebzig Preisen ausgezeichnet. Vieles was dort gesagt wurde, gilt auch hier, was hier zu sagen ist, auch dort.