Les dames
Noëlle
Sie sind ledig, verwitwet oder geschieden, hatten Kinder, Ehemänner und Jobs. Sie leben und wollen weiterleben und das Leben geniessen. Der Dokumentarfilm «Les dames» führt uns hinein ins Privatleben von fünf älteren Frauen, die diskret und nachhaltig Tag für Tag gegen die Einsamkeit ankämpfen und weiter an die Liebe glauben.
Die Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond kennen sich seit der Schulzeit. Sie haben miteinander das Handwerk des Filmens gelernt. Und ihr erster Langspielfilm, «La petite chambre», war 2011 der Schweizer Oscar-Anwärter und gewann diverse Preise, u. a. den Schweizer Filmpreis für den besten Film und das beste Drehbuch. Ihr neuer Film «Les dames» gehörte 2018 in der Romandie zu den erfolgreichsten Dokumentarfilmen. Mit Feingefühl und Witz widmen sich die Regisseurinnen den charmanten und lebensfrohen Frauen, unterstützt durch die differenzierte Kamera von Joseph Areddy und den informativen Schnitt von Karine Sudan. Nach einem bewegten Einstieg wird der Film ruhiger, vertieft sich in die Argumente und Gefühle, die Erfahrungen und Befindlichkeiten der fünf Damen und gipfelt in schönen, intimen Momenten von allgemeiner Gültigkeit.
Odile
Von den Sensationen des Alltags
Bei der Vorführung ihres Films «La petite chambre» haben Chuat und Reymond festgestellt, dass er, wohl seines Generationenthemas wegen, vor allem bei pensionierten Frauen gut ankommt. Von diesem Phänomen überrascht, haben sie beschlossen, die Welt der älteren Frauen, die sowohl ängstigt als auch fasziniert, weiter zu erkunden. Dafür haben sie einen Aufruf lanciert, auf den sich über hundert Frauen gemeldet haben. Nach Vorgesprächen haben sie schliesslich Protagonistinnen im Alter zwischen 63 und 75 Jahren ausgewählt. Fünf gewöhnliche Frauen im gewöhnlichen Alltag: Marion mit ihren Aktivitäten im Dorf, Carmen, die ihre Phobien bekämpft, Pierrette, die sich beim Musizieren erholt, Odile beim Wandern und Fotografieren und Noëlle, die immer noch von einem modernen Prinzen träumt.
In der Schweiz, und nicht nur da, sind Frauen im Ruhestand die grosse Mehrheit, bleiben jedoch in der Öffentlichkeit seltsam unbemerkt, schlimmer, sie fühlen sich oft unsichtbar, wissend, dass ihr Datum abgelaufen ist, obwohl sie noch gut zwanzig, dreissig Jahre vor sich haben. Denn ihr Leben endet nicht mit der ersten AHV. Doch was können sie mit ihren Wünschen und Bedürfnissen Männern gegenüber machen, wenn diese sie nicht mehr wahrnehmen? Viele sind auch enttäuscht von langweiligen Begegnungen, andere haben ihre Sexualität aufgegeben, obwohl in glücklichen Momenten ihre Augen funkeln, wenn sie über Liebe sprechen.
Carmen
Parlez-mois d'amour
Die beiden Filmemacherinnen haben die alten Frauen ein Jahr lang begleiten, um an ihrem alltäglichen Leben teilzuhaben. Die lange Dreharbeit, die Anwesenheit der Kamera, vor allem aber die Offenheit und Empathie der zwei jungen Frauen ermunterten die alten zur Offenheit und zur Auseinandersetzung mit sich und ihrem Alter. Über die Monate hin offenbarten sie mehr und mehr von ihrer Persönlichkeit. Jetzt sind sie im Film, ihr Handeln fein skizziert und ihr Alltag unterhaltsam erzählt, und berühren uns, ob Frauen oder Männer, ob jung oder alt. Wir erleben die Wiedergeburt Pierrettes, die sich vom Tod ihres Mannes erholt, ebenso Marion, die ihre Höhenangst auf dem Glacier des Diablerets überwindet, Odile bei der Wildschweinjagd, Noëlle beim Schwimmen, wenn sie über Feminismus sinniert, und Carmen, welche die langen Nächte eines Karnevals durchtanzt.
Was die fünf Frauen über Freundschaft, Nähe, Zärtlichkeit, Liebe und Sexualität erzählen, ist das Ereignis des Films. Es sind das die Sensationen des Alltags. Ich habe sie hier nur verkürzt wiedergegeben, denn ich möchte ermuntern, genau hinzuhorchen, hinzusehen, sich hineinzufühlen, welche Nuancen, welche Hintergründe und Zusammenhänge offenbar werden, jenseits der banalen Klischees vieler Liebesfilme.
Marion
Aus einem Interview mit den beiden Regisseurinnen
Wie ist die Idee zu diesem Film entstanden?
SC: Aus der persönlichen Angst, uns künftig allein unter Frauen wiederzufinden. Denn wir haben festgestellt, dass die Gesellschaft nach der Pensionierung weiblich ist. Eine Idee des Films besteht also in der Furcht vor einem Leben ohne Männer, welche zudem von deutlich jüngeren Frauen angezogen werden. Um dem entgegenzuwirken, haben wir uns entschlossen, die Frauen über sechzig, die sich in der Gesellschaft unsichtbar fühlen, ins Licht zu rücken.
VR: Während der langen Arbeit mit den fünf Frauen haben wir erkannt, wie reich, voller Leben und voll vielfältiger Wünsche diese sind. Sie haben uns mit dem Mut beeindruckt, ihr Leben täglich neu zu erfinden.
Pierette
Nach welchen Kriterien haben Sie die Protagonistinnen ausgewählt?
VR: Während der Ausstrahlung unserer TV-Serie «A livre ouvert» von 2014 haben wir in der Presse einen «Appel à dames» für das Filmprojekt veröffentlicht und waren schockiert über die vielen Rückmeldungen. Eine solche Begeisterung hatte wir nie erwartet. Der Wunsch dieser Frauen zu sprechen hat uns bestärkt, den Film zu realisieren. Wir haben eine Vorauswahl getroffen und uns mit etwa dreissig potenziellen Protagonistinnen getroffen. Die endgültige Wahl ergab sich aus einer Mischung ihrer repräsentativen Lebensgeschichten und der Beziehung zwischen ihnen und uns.
SC: Ehrlichkeit ist wesentlich für dieses Projekt, das auf den Protagonistinnen, ihrem täglichen Leben und ihrer Privatsphäre basiert und Voyeurismus vermeiden muss. Hauptsächlich haben wir jene Frauen ausgewählt, bei denen wir ein tiefes Bedürfnis verspürten, aus ihrem Leben zu erzählen.
Stéphanie Chuat (l) und Véronique Reymond
Warum ist es Ihnen wichtig, zu zweit arbeiten zu können?
SC: Vielleicht weil wir zu zweit ins Handwerk des Schreibens, des Theaters und der Regie eingestiegen sind. Die Arbeit zu teilen, ist für mich selbstverständlich. Ich liebe es, mich mit Véronique auszutauschen, beim Schnitt die besten Momente und die richtige Struktur des Films zu finden, die dem entspricht, was wir vorhatten auszudrücken.
VR: Welten erfinden, gemeinsam Geschichten und neue Lebensabenteuer, das ist der Raum für unser Spiel, das wir nicht müde werden, zu spielen.
Regie: Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, Produktion: 2018, Länge: 81 min, Verleih: filmcoopi
ich habe Ihren spannenden Film im Kino gesehen
vielen Dank für die feinfühlig dokumentierten Lebensausschnitte !
In der Vorschau auf srf trägt ihr Film auf deutsch nun leider den Untertitel ‚immer noch Frau‘
So diskriminierend !Zumal in den Kritiken oft von 60 jährigen Frauen geredet wird ...mit 60 immer noch Frau -?? wow das ist ja kaum zu glauben ! Stellen Sie sich vor es ginge um Männer ...
War dieser Untertitel in Ihrem Sinn?
mit herzlichem Gruss
Melanie Grigoleit