L'étudiante et Monsieur Henri
Henri, ein mürrischer Kauz
Monsieur Henri ist ein mürrischer alter Herr, ein Misanthrop wie er im Buch steht. Er lebt allein mit einer Schildkröte in einer viel zu grossen Pariser Altbauwohnung und ärgert sich so ziemlich über alles: die jungen Leute und viel anderes, vor allem aber die Ehefrau seines Sohnes. Weil Henris Gesundheit etwas angeschlagen ist, beschliesst sein Sohn Paul, für ihn eine Mitbewohnerin zu finden, die für ihn sorgen soll. Mit der chronisch abgebrannten Studentin Constance kommt ihm jedoch eine junge Dame ins Haus, die all das macht, was Henri auf den Tod nicht leiden kann, zum Beispiel seine Pantoffeln klaut und unerlaubt auf dem Klavier spielt. Weil sie sich die Miete eigentlich gar nicht leisten kann, bietet er ihr ein skurriles Geschäft an: Wenn sie es schafft, seinem Sohn Paul so lange schöne Augen zu machen, bis dieser seine Ehefrau Valérie verlässt, ist die Miete umsonst. Wohl oder übel willigt Constance in den Deal ein. Und nun stolpert der ahnungslose Paul in seinen zweiten Frühling und Constance in eine schrecklich nette Familie, die dank Monsieur Henri im Chaos versinkt.
Constance liest Henris Hausordnung
Das Leben rauf und runter «dekliniert» und «konjugiert»
«L’étudiante et Monsieur Henri» von Ivan Calbérac ist eine wunderbare Wohlfühl-Komödie mit Witz und französischem Charme, eingeführt mit heiterer, teils neckischer Musik und gespickt mit vielen Wort- und Bildwitzen. Mit Fantasie und Heiterkeit inszeniert der Regisseur die komischen Verwicklungen dieser Pariser Wohngemeinschaft. Dabei «dekliniert» der alte Misanthrop (ein grossartiger Claude Brasseur) alles rauf und runter, was ein Alter verachten, verabscheuen und hassen kann, und «konjugiert» die junge Studentin (eine vife Noémie Schmidt) alles durch, was ihr das Leben an Problemen in den Weg stellt. Dem Regisseur gelingt es in seinem «tour d'horizon» durch das Leben, das Publikum immer wieder mit unvorhersehbaren Aktionen zu überraschen.
Wie kam Ivan Calbérac, der 1970 geborene Regisseur, Drehbuchautor, Schauspieler, Filmproduzent und Theaterautor auf die Idee, «L’étudiante et Monsieur Henri» zuerst als Theater, dann als Film zu realisieren? «Es waren zwei Dinge, die ich machen wollte: zum einen zwei Menschen an sehr unterschiedlichen Momenten in ihrem Leben zusammenbringen, eine Person, die noch am Anfang ihres Weges steht, und eine, die auf das Ende zusteuert.» So bietet der Film über die Jugend, und mehr noch das Alter, wunderbare Ansichten und Einsichten, ohne dass er analysiert und belehrt. Er birgt Lebensweisheiten, die man gerne annimmt, weil sie verspielt und unterhaltsam daherkommen: «Ich wollte eine Geschichte schreiben, in der die Hauptfigur am Ende genau das Gegenteil von dem bekommt, was sie sich anfangs gewünscht hat. Denn ich liebe die Ironie, die ich in meinem Alltag oft erlebe: Wenn man ein Ziel verfolgt, bewirkt man manchmal unbewusst das Gegenteil.» Sich mit dieser Umkehrung von Erwartung und Erfüllung im Film auseinanderzusetzen, macht Spass, es fällt einem hier leichter als im eigenen Leben.
Constance (l) und Valérie, Pauls Frau
Lachen als Scheibenwischer
Die Frage, warum der Regisseur für diese Aussagen die Form der Komödie gewählt habe, beantwortet er wie folgt: «Zuallererst weil es meiner Persönlichkeit entspricht. Zweitens weil die Komödie eine Versöhnung mit der Realität ermöglicht. Das ist die ideale Form, um sich mit etwas Tragischem auseinanderzusetzen. Sobald man über ein Problem lachen kann, relativiert es sich ein wenig und wird klarer. Der französische Komödiant Coluche sagte einmal: „Lachen ist wie ein Scheibenwischer, es stoppt den Regen nicht, aber hilft einem, klarer zu sehen.“ Bei den Figuren des Films handelt es sich um eine Mischung aus mehreren Personen, die ich kennengelernt und in meiner Fantasie zusammengefügt habe. Henri ist ein mürrischer Rentner, ein gemeiner Kerl, aber mit einem grossartigen Sinn für Humor. Das mag ich an ihm: seine rednerische Begabung, die er stets im Dienste seiner misanthropischen Absichten einsetzt. Ein verletzter Mann, der nie versucht, jemandem zu gefallen. Das genaue Gegenteil von Constance. Ihre Figur habe ich auch über ihre Schwächen konstruiert. Hinter dem strahlenden Lächeln versteckt sie fehlendes Selbstvertrauen, was dazu führt, dass sie regelmässig in allem, was sie unternimmt, scheitert. Dennoch fehlen ihr nie die Worte. Denn um Henri Paroli bieten zu können, darf sie sich niemals kleinkriegen lassen.»
Der Eigenbrötler und Misanthrop
Slalomfahrt um Komödie, Melodrama und Drama
«L'étudiante et Monsieur Henri» spielt in einer realen Welt, wie wir sie täglich erleben oder beobachten. So berichteten unlängst unsere Medien von der Besichtigung der Wohnsiedlung Kronenwiese in Zürich, wo schier endlose Schlangen von Interessierten für eine Wohnung anstanden. Es geht im Film im Hintergrund um Wohnungsmangel. Weiter handelt er von zwischenmenschlichen Themen wie Herkunft, Eltern-Kind-Beziehung und Selbstverwirklichung. Calbérac behandelt diese an sich ernsthaften Themen mit Humor, dass man dabei nicht merkt, wie man dabei lernt.
Was Claude Brasseur über seinen Beitrag zum Film sagt, kann auf das ganze Werk übertragen werden: «Es ist ein bisschen wie der Patient, der seinen Arzt anruft: Danke, Herr Doktor, Sie haben mir geholfen. Ich sage mir: Hier ist jemand, der seine Sorgen für 90 Minuten vergessen konnte, während er sich mein Schauspiel angeschaut hat. Das bereitet mir Freude. Ich erwarte nichts, ich habe nur diesen einen Wunsch: Teil der Erinnerung von morgen zu sein.» Vielleicht passt letztlich auch der Satz von Immanuel Kant hierher: «Nur wer das Leben ernst, bitterernst nimmt, hat auch wirklich Humor.»
Symptomatisch: Der Satz "Ich liebe Humor, vor allem, wenn er witzig ist" ist ja in seiner Ironie durchaus geistreich; aber wenn er von so einer als dumm eingeführten Figur wie der Valérie gesagt wird, weiß man nicht recht, was man davon halten soll.