Lichtspieler

Ein Tausendsassa der Kinematografie: Hansmartin Siegrist hat mit seinem Dokumentarfilm «Lichtspieler» ein faszinierendes Porträt des schillernden Schweizer Medienpioniers, Geschäftsmanns und Philanthropen François-Henri Lavanchy-Clarke geschaffen: informativ und unterhaltsam.
Lichtspieler

Reihenaufnahme von François-Henri Lavanchy-Clarke

Persönliche Vorbemerkung: Wenn es im Editorial meiner Website heisst, dass darin Filme besprochen werden, die Werte vermitteln, auf Fragen des Lebens Antworten suchen oder Sinn stiften und Fremdes ausleuchten oder Grenzen sprengen, dann passt «Lichtspieler» vielleicht nicht hundertprozentig in dieses Profil. Ich ändere es deshalb, weil mich dieser Film dermassen beeindruckt hat, dass ich Sie dazu einladen möchte.

Das Projekt: In einem französischen Filmarchiv wurden fast 50 der frühesten Filmrollen mit Schweizer Sujets, in teils ruinösem Zustand, entdeckt. «Lichtspieler – Wie Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte» erzählt die spannende Geschichte des Schöpfers: des genialen, exzentrischen Schweizer Medienpioniers François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 – 1922) und die Story der aufwendigen Restaurierung, Digitalisierung und Analyse dieser Filmdokumente aus der längst verschwundenen Schweiz.

Der Autor: Hansmartin Siegrist, geboren 1954, lebt in Basel, ist Dr. phil. in Filmtheorie, AV-Produzent/-Consultant und Publizist, unterrichtete 1981 bis 2021 u.a. an der Universität und der HGK Basel, war 1987 bis 1994 Programmleiter/Produzent am Corporate Studio von Ciba-Geigy, danach Mitinhaber der AV-Produktion Visavista AG. Er ist Produzent und Realisator von mehreren hundert Auftragsproduktionen für Industrie, Verwaltung und NGOs und schrieb zahlreiche Publikationen zur Medientheorie und Filmgeschichte.

 

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Restaurierungsarbeit für «Lichtspieler»

 

Schritt ...

1896. Veränderung lag weltweit in der Luft. Am Horizont des Fin de siècle dämmerte die Moderne. Epochale Entdeckungen, Erfindungen und Kunstströmungen schufen neue Realitäten, entlarvten die Belle Époque als vergoldetes Zeitalter. Mittendrin an dieser Schwelle stand der Cinématographe der Brüder Lumière, der binnen Jahresfrist von Lyon aus den ganzen Globus eroberte. Doch am Anfang dieses Siegeszuges standen nicht nur Edison und Lumière, sondern auch ein schillernder Schweizer, der am meisten verkannte Pionier unserer Mediengeschichte: der Selfmade-Mann François-Henri Lavanchy-Clarke, der anlässlich der zweiten Schweizer Landesausstellung 1906 von Genf aus die Schweiz in sein Kino brachte, das er in seinem Pavillon betrieb.

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F-H. Lavanchy-Clarke, 1902

... um Schritt,

 

Weshalb und wie dieses umtriebige Marketingtalent als erster in der ganzen Schweiz bewegte Bilder aufnahm und vorführte, ist eine faszinierende Erzählung mit den Ingredienzien Rotes Kreuz, Ägyptenmission, Blindenfürsorge, internationales Genfer Banking, Chocolat Suchard und Sunlight-Seife. Der Cineast wirft zu der Zeit, in der er mit dem Cinématographen unterwegs war, ein neues Licht auf die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung zwei Generationen nach Gründung des Bundesstaates. Die Umbruchzeit der vorletzten Jahrhundertwende lässt sich wohl anhand keiner Person interessanter erzählen als anhand des genialen Monsieur François-Henri Lavanchy-Clarke, seiner Filme – und jetzt des Kinodokumentarfilms «Lichtspieler» von Hansmartin Siegrist.

Dank modernsten Technologien zur Bildbearbeitung können die alten Filme erstmals seit 1898 wieder einer breiten Öffentlichkeit gezeigt werden: als bewegt-bewegende Dokumente einer seit fünf Generationen entschwundenen Zeit. Als grundlegendes Werk eines Mannes, der als einziger Pionier des internationalen Early Cinema all die Ingredienzen kannte, aus denen das Verbundmedium Kinematografie zusammengesetzt war: Chronofotografie, Automatentechnik, chemische Industrie, Banking, Kampagnen-Marketing und Entertainment.

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Familie Lavanchy-Clarke in Cannes, 1906

... um Schritt.

 

1995 wurde vom französischen Kulturministerium, nicht ohne eine gewisse Beliebigkeit, die Hundertjahrfeier des Cinema ausgerufen. Bewegte Bilder und Filmmaterial gab es zwar schon früher. Auf Filmvorführung spezialisierte Kinos etablierten sich aber erst ab 1903. Was Frankreich und fast ganz Europa im Dezember 1995 feierten, war die Lancierung des Cinématographen der beiden Industriellen Lumière. Dieses elegante Kombi-System mit Kamera und Projektor wurde umgehend zum weltweiten Marktleader des schnell boomenden Filmmediums.

In Basel wollten Hansmartin Siegrist und Kollegen mit einem Medienevent dabei sein: Sie brachten jenen Film, den der Lumière-Partner Lavanchy-Clarke am 28. Oktober 1896 auf der Basler Rheinbrücke gedreht hatte, an seinen Entstehungsort zurück und projizierten ihn zwei Wochen lang auf Grossleinwand auf der Mittleren Brücke. Seitdem blieb Siegrist an diesem Kurzfilm interessiert, bis er 2015 eine universitäre Forschungsgruppe ins Leben rief, um in detektivischer Kleinarbeit und mit modernsten Mitteln der Bildbearbeitung möglichst viel über die 80 Personen herauszufinden, die in den Jahren an Lavanchy-Clarkes Kamera vorbeigezogen waren. Dazu entstand 2019 sein Buch «Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque», mit rund 500 Seiten zu den 50 Sekunden Film.

Dann aber ging es Schlag auf Schlag: Die im französischen Filmarchiv gefunden Filme von Lavanchy-Clarke und sein Nachlass in der Villa Belle Rive ermöglichten es, mit einem Dokumentarfilmprojekt Leben und Werk dieses Medienpioniers aus den Archiven und universitären Hörsälen herauszuholen und schliesslich mit dem Kinodokumentarfilm «Lichtspieler» einem breiteren Publikum zu präsentieren.

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Der Rheinfall, 1896

Die Filme im Film

 

• Kinderfest- und Kavallerie-Umzüge am Maienzug 1897 (Aarau)
• Die alte Rheinbrücke 1896 (Basel)
• Letztes Pferderennen auf der Schützenmatte 1897 (Basel)
• Fasnacht 1898 (Basel)
• Markt auf der Schauplatzgasse und zum Bärengraben 1897 (Bern)
• Staatsbesuch des Königs von Thailand (Bern)
• Militärmanöver Frauenfeld (Bern)
• Kinderspiele in Froburg bei Olten (Bern)
• Landesausstellung von 1896, u.a. mit Ferdinand Hodler (Genf)
• Lavanchy-Clarkes Villa: Die Familie macht Seifenwerbung 1896, 1897 (Genf)
• auf dem Pont du Mont-Blanc und in der Rue Vernier 1898 (Genf)
• Trachtenumzug 1896 (Interlaken)
• Place St-François: Holzhacker und ein Défilée mit dreister Werbung 1896 (Lausanne)
• Kadettenübungen 1898 (Lausanne)
• Filme aus Trams und Bergbahnen um 1898 (Montreux)
• Der Rheinfall 1896 und 1898 (Schaffhausen)
• Werbe-Spaziergang auf dem Mont de Baulmes, 1898 (Ste-Croix)
• Strassenszenen auf dem Marktplatz und beim Broderbrunnen (St. Gallen)
• Ausblick aus der Zermattbahn (Zermatt)
• Eröffnung des Landesmuseums 1898 (Zürich)
• Diverse Filme aus Lavanchy-Clarkes Villa in Cannes 1898 – 1904
• Königin Victorias Goldenes Thronjubiläum 1897 (London)

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Im Archiv der Villa Belle Rive, Cannes

«Lichtspieler»: ein Film mit enzyklopädischem Wert

«Lichtspieler» ist das, was oben der Lead ankündigt – doch er ist mehr! Er ist das Porträt einer Epoche der schweizerischen und der europäischen Geschichte – doch er ist noch mehr! Er ist eine Anthologie der damaligen Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, der Medien, ja des Denkens und Fühlens der Menschen, wahrgenommen in der Gegenwart und ausformuliert mit der notwendigen Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit.

Hansmartin Siegrist hat den Film zusammen mit einem exzellenten Team entwickelt, unter anderen mit der Kunsthistorikerin Diana Blome, den Filmhistorikern Roland Cosandey und Laurent Mannoni, der Historikerin Sabine Flaschberger, der Religionswissenschafterin Ricarda Stegmann und dem Historiker Jakob Tanner.

Doch Siegrist steht, bei der Realisierung von einem weiteren Team unterstützt, als Chef da, dass aus dem riesigen Berg von Informationen, Daten, Fakten, Theorien und Meinungen ein Film entstanden ist, der von Anfang bis Schluss berührt, bewegt und unterhält. Das war sicher nicht leicht, das gelingt nur selten. Es darf gehofft werden, dass der Film noch weitere Untersuchungen auf institutioneller Ebene und Gespräche beim Publikum auslösen und munitionieren wird.

Regie: Hansmartin Siegrist, Produktion: 2022, Länge: 103 min, Verleih: Praesens