L'Immensità

Überfordert: Unermesslich überfordert ist die Frau eines patriarchalen Mannes und Mutter von drei minderjährigen Kindern, begründet in der von Kirche und Staat geforderten ewigen ehelichen Liebe. Emanuele Crialese hat diese das Leben umfassende Forderung ausgelotet und grossartig in den Film «L'Immensità» eingebracht.
L'Immensità

Adri und Mutter Clara am Fuss der Spanischen Treppe

 

Rom in den 1970er-Jahren: Die Familie Borghetti ist gerade in einen der vielen neuen Wohnkomplexe gezogen, die in der italienischen Hauptstadt gebaut wurden. Doch auch das grosse Apartment mit Blick über die ganze Stadt vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Clara (Penélope Cruz) und Felice (Vincezo Amato) sich nicht mehr lieben. Sie rettet sich in die besondere Beziehung zu ihren drei Kindern. Mit der älteren Tochter Adriana (Luana Giuliani) ist die Mutter besonders innig verbunden. Mit Fantasie und Leichtigkeit möchte sie ihren Kindern die Freiheit geben, sich zu entfalten. Doch als Adriana anfängt, sich in der neuen Nachbarschaft bewusst als Junge vorzustellen und sich mit Sara anfreundet, wird das feine Band, das die Familie noch zusammenhält, an einen Punkt gebracht, an dem es zu zerreissen droht.

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Clara zwischen Hammer und Ambos

 

Die immer wieder hinausgeschobene Geschichte

 

In seinem fünften Spielfilm porträtiert der 1955 in Rom geborenen Drehbuchautors und Regisseur Emanuele Crialese eine Familie in Rom, einer Stadt, die von Lebensfreude überquillt und im Luxus schwelgt, aber auch in patriarchalen Machtstrukturen gefangen bleibt und ihre veralteten Geschlechterrollen zelebriert. Der magische Realismus des vielschichtigen und spannenden Films bringt vieldeutige, berührende und herausfordernde Bilder und lässt uns Zuschauende eintauchen in ein persönlichstes Werk über zerbrochene Familienstrukturen, Einsamkeit und Suche nach Identität.

 

«L’Immensità» war schon immer «sein nächster Film», doch jedes Mal wich er einer anderen Geschichte, als ob Crialese sich dafür noch nicht reif fühlte, sich davor vielleicht sogar scheute. Erst 2020 wurde aus der Idee dieser Film über eine persönliche und gleichwohl allgemeingültige Reise in die Vergangenheit, zu Erinnerungen, mal präzise, ​​mal vage, schliesslich beim Drehen neu betrachtet und überarbeitet mit aktuellen Erfahrungen.

 

Oft schon stand die Familie, schreibt der Filmemacher, im Mittelpunkt seiner Filme: fast immer fragmentierte, problematische, dysfunktionale. «L’Immensità» bildet den bisherigen Höhepunkt seiner Arbeiten über die Familie, die er langer Zeit studiert hatte: Familien, die keinen Schutz bieten, wo Kinder ohne Geborgenheit aufwachsen, die eheliche Liebe tot ist, Treue gebrochen wird, Männergewalt offen und versteckt herrscht, die Gemeinschaft sich auflöst, jede abweichende Geschlechtsidentität geleugnet wird, wozu Adri zugespitzt meint: «Mama und Papa, ihr habt mich falsch gemacht. Ich bin nicht Adriana. Ich bin aus einer andern Galaxie.»

 

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Die Kinder steigen ins Labyrinth ihrer Unterwelt

 

Wir und der Film

 

Höchst wahrscheinlich kennen wir alle Mitmenschen in ähnlichen Situationen, mit vergleichbaren Problemen und Konflikten in unserem Umfeld. Das kann motivieren, genau hinzuschauen und hinzuhören, um dann, im Sinn eines medienpädagogischen Probehandelns, den Film auf uns und uns auf den Film zu beziehen. «L'Immensità» ist so konzipiert und realisiert, dass sich solche intra- und interpersonale Kommunikation anbietet und das Zuschauen bereichern kann.

 

Jedes einzelne Thema bekommt im Film viel Raum, ausgeleuchtet zu werden. Doch im Lauf der Handlung kristallisieren sich einige Themen heraus: So die Gewalt, die Verlogenheit, die Sentimentalität der ewigen Liebe in der Ehe, mit dem Ziel, «bis der Tod euch scheidet». Dahinter stehen Gewohnheiten, Regeln, Rituale, die von der Kirche und der Gesellschaft geschaffen, verbreitet und perpetuiert werden als geforderte Grundbefindlichkeit, bis es schliesslich sogar Felice zu viel wird: «Es stinkt nach Scheisse in diesem Haus!»

 

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Adri sieht, was abläuft, bekommt aber keine Antwort

 

Bilder: Abbilder, Vorbilder, Sinnbilder

 

Der Regisseur versucht, in die «Erinnerungen an die damalige Zeit» einzutauchen und bittet dafür seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Familienfotos, Polaroids und Dinge aus ihrer Vergangenheit zu einem Familienalbum zu vereinen, dass damit die Körper im Film eine Seele und die Seelen im Film einen Körper erhalten. Vielleicht lohnt es sich auch für uns, einmal in ähnlicher Form die Quellen unserer Vergangenheit anzuzapfen. Die Suche nach den Kindern, den «kleinen Dolmetschern», wie er sie nennt, erwies sich als lang und umständlich. Denn heute haben die Kinder einen anderen Blick auf die Realität als damals. Deshalb entschied er sich, in die Provinz, aufs Land, ans Meer zu reisen, wo er dann die «glaubwürdigen Kinder der 70er-Jahre» entdeckte. Weitere Quellen für die Authentizität der Geschichte fand er in den während Jahrzehnten ausgestrahlten Unterhaltungssendungen des kommerziellen italienischen Fernsehens, an deren Aufbau der kürzlich verstorbene Silvio Berlusconi wesentlich beteiligt war. Dort wurden, um viel Geld zu verdienen und schnell berühmt zu werden, professionell Träume erfunden und produziert, die dann Stoff wurden für die Träume vieler Italienerinnen und Italiener über lange Zeit.

 

Was ich hier an Themen formuliert habe, bleibt im Film nie Theorie. Es wird, am eindrücklichsten von Penélope Cruz als Mutter und Luana Giuliani als Transmensch Adri zum Leben erweckt. Es berührt und bewegt. «L'Immensità» kommt mit viel Italianità, grosser Spielfreude und feinen Nuancen daher, verstärkt durch die Montage von Clelio Benevento, die zum Denken, und die Bilder von Gergely Pohárnok, die zum Träumen anregen und grosse Lebenserfahrung verraten, alles basierend auf dem Drehbuch und der Regie von Emanuele Crialese. All dies schafft eine schöne, spannende Unterhaltung, die weiterwirkt.

 

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Adri mit dem Zigeunermädchen Sara, in einem der seltenen Glücksmomente

 

Für mich und die Gesellschaft

 

Angesichts des Films drängt es sich auf, zuerst sich selbst zu öffnen, um anschliessend auch für das Leben der Menschen im Film offen zu sein. Wer hat nicht schon einiges davon selbst erlebt oder gelebt? Hat Fehler gemacht? Wurde schuldig? Mit Ereignissen, Fakten, Taten, Aussagen? Wenn wir uns gegenüber offen sind, werden wir uns wohl auch öffnen für die Menschen in «L'Immensità». Das kann wehtun, aber auch guttun. Weil nur so Änderung möglich wird. Solches meint wohl der Tatbestand der Katharsis: nach der Literatur Läuterung der Seele von Leidenschaften als Wirkung des antiken Trauerspiels, nach der Psychologie das Sich-Befreien von psychischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren.

 

Obwohl der Film in den 70er-Jahren spielt, ist er hoch aktuell, weil erst heute Themen wie die Gewalt in der Ehe, die geschlechtliche Identitätsfindung und die Bewusstseinsindustrie in breiten Kreisen thematisiert und diskutiert werden. Vieles ist gottlob heute im Fluss und verlangt ehrlichen, klärenden Bildern: Abbilder, Vorbilder, Sinnbilder.

 

Dass Crialese, neben «L'Immensità», einen Film wie «Terraferma» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/tuv/terraferma) gedreht hat, erstaunt nicht, weil er auch dort, wo Menschen aus Afrika geflüchtet sind, im Mittelpunkt die Geschichte einer Aussenseiterfamilie erzählt, die auf der sizilianischen Insel Terraferma ums Überleben kämpft.

Regie: Emanuele Crialese, Produktion: 2021, Länge: 94 min, Verleih: Monopol Pathé