Love Life

Liebe und Leben, japanisch: Eine Frau wohnt mit Mann und Sohn in einer Wohnung gegenüber dem Haus der Schwiegereltern, die ihre Ehe nie ganz akzeptiert haben. Als sie die Existenz einer ehemaligen Verlobten ihres Mannes entdeckt und der leibliche Vater ihres Buben auftaucht, beginnt «Love Life» des Regisseurs Koji Fukada sein aufreibendes und wunderbares Wechselspiel der Gefühle und Handlungen über das Leben, die Liebe, den Tod. Ab 16. Mai im Kino
Love Life

Vater und Mutter von Jiro und dessen Frau (v. l.)

 

Typisch japanisch und dennoch welthaft

 

Ein meisterlich inszeniertes und gespieltes Drama über eine glückliche Familie, der mit dem Tod eines Kindes jedoch jäh das Zentrum ihres Lebens abhandenkommt, pendelt mit grosser Feinheit und vielen Anspielungen zwischen unterschiedlichen emotionalen Stimmungen und inhaltlichen Aussagen und findet immer wieder unerwartete Wendungen, um klug und bewegend die fragile Natur menschlicher Liebesbeziehungen auszuloten.

 

Der Regisseur Koji Fukada erzählt in «Love Life», basierend auf der gleichnamigen Ballade von Akiko Yano, eine «typisch» japanische Geschichte über die Liebe, das Leben und den Tod, das heisst, still und geheimnisvoll, alltäglich und unerwartet.

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Der leibliche Vater des Buben, die Mutter von Keita und deren Mann

 

Vom Melodrama zum Kammerspiel

 

Taeko (Fumino Kimura) lebt zusammen mit ihrem seit einem Jahr verheirateten zweiten Ehemann Jiro (Kento Nagayama) und dem sechsjährigen Sohn Keita (Tetta Shimada) aus ihrer früheren Beziehung mit Park (Atom Sunada) ein friedliches Leben in einer kleinen japanischen Stadt. Ihre Schwiegereltern wünschen sich einen eigenen Enkel. Ihr passiv-aggressiv vorgetragenes Bedürfnis stört das Geburtstagsfest, das für den Grossvater organisiert wird, nicht weiter, passt es doch gut zu dieser japanischen Zweckgemeinschaft. Keita ist ein aufgewecktes, fröhliches Kind, das als Meister des Brettspieles Othello begeistert und alle Leute erfreut, bis sein abrupter Unfalltod alle ins Herz trifft. Dieser erschüttert vor allem seine Mutter, die sich mit Schuldgefühlen abquält. Bei der Beerdigung taucht unerwartet Park (Atom Sunada), der taubstumme leibliche Vater des Jungen, auf, der seit Jahren untergetaucht ist. Das Zusammentreffen ist explosiv und führt dazu, dass er als koreanischer Obdachloser in der japanischen Stadt bleibt, wo Taeko als Sozialarbeiterin und Jiro als ihr Dienstchef arbeiten.

 

Diese sehr spezielle Menage-à-troi, nimmt man die Grosseltern und den Kindsvater dazu, eine Menage-à-six, spielt auf kleinstem Raum, wird intensiver und entfaltet sich als ein komplexes, reich befrachtetes Melodrama. Der deutsche Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau und der Franzose Eric Rohmer könnten dem Japaner Koji Fukada formal und inhaltlich Pate gestanden haben. Handlungen und Bilder, Gespräche und Dekors laden zum Hinhören und Hinschauen ein. Dieses Verweilen ist nötig, um dem Auf und Ab, dem Hin und Her dieses «Liebeslebens» zu folgen und immer wieder neue Antworten hinter den offensichtlichen Fragen der Handlung zu finden.

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Jiro und Taeko bei der Trauerfeier

 

Die Schönheit und das Chaos des Lebens und der Liebe

 

Die Figuren wirken auf ganz eigene Art fremd, aber dennoch sympathisch in der unvollkommenen, fehlerhaften Art ihrer Lebensläufe. Die Rolle der Taeko spielt der in Japan berühmte, sanftmütige, vielschichtige Star Fumino Kimura. Ihre Arbeit als Sozialarbeiterin und ihre persönlichen Probleme treiben sie in ein Helfersyndrom. Oft würde sie nach ihren Einsätzen am liebsten gleich im Boden versinken, obwohl sie voll im Helfen aufgeht. Ihr Mann spielt in der Geschichte so etwas wie einen Go-Between mit den Handlungen und Gefühlen zwischen den Beteiligten. Der Ex-Mann Park, der auch im richtigen Leben taubstumm ist, lügt, ist unzuverlässig und benimmt sich wie ein Egoist, wird als Halbkoreaner ohne festen Wohnsitz in Japan von der hiesigen Gesellschaft geächtet. Seine Hilflosigkeit, die sich im Alltag und symbolisch in der Gebärdensprache zeigt, wirkt wie ein Magnet auf die Hilfsbereitschaft Taekos. Was «Love Life» uns mit seinen Anspielungen und Auslassungen bedeutet, vertiefen die Bilder von Hideo Yamamoto und die Musik von Olivier Goinard.

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Rückblende in Keitas Jugend

 

Kommentar des Regisseurs Koji Fukada

 

Taeko steht als Figur für ein ganzes System. Meiner Meinung nach definiert sie sich durch ihre Beziehung zu ihren Mitmenschen, in der Rolle, die sie für andere spielt: Sie ist Jiros Ehefrau, Keitas Mutter, die Beschützerin ihres Ex-Mannes. Eine Figur, der es schwerfällt, ihre eigene Individualität zu behaupten, was ziemlich typisch ist für die japanische Gesellschaft. In unserer Gesellschaft nennt man jemanden mit seiner Berufsbezeichnung und bezeichnet eine Frau als die «Frau von«, die «Mutter von».

 

Die Schauspielerin, die Taeko verkörpert, ist eine selbstbewusste und starke Frau. Zudem ist sie sehr offen und sagt, was sie denkt. Dieser Charakterzug hat die Figur beeinflusst, und deshalb reagiert sie sehr souverän, als sich ihr Schwiegervater ihr gegenüber beleidigend äussert. Trotz dieses Temperaments verkörpert sie die Unmöglichkeit, sich vollkommen vom patriarchalen System zu emanzipieren.

 

Zum Nachsinnieren ...

 

Seit Jahren suche ich in den grossen Werken der Filmkunst Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Je nach Auswahl erhalte ich diese ansatzweise, verschlüsselt oder vollumfänglich und zur grossen Befriedigung. «Love Life» etwa beschenkt mich, je länger ich mich damit beschäftige, reich und macht mich glücklich.

 

Es ist wohl nicht zufällig, nur ein kleines Beispiel, dass im Film neunmal gezeigt wird, wie auf dem Balkon eine aufgehängte CD herumtanzt, die das Licht in alle Richtungen reflektiert und Szenen mit Szenen und Figuren mit Figuren in Beziehung bringt und schliesslich eine Stimmung von Unsicherheit, Unbestimmtheit und Offenheit verbreitet, dass mit diesem Gegenstand nicht einfach Taubendreck abgehalten werden soll.

 

Der Film führt uns immer wieder von spontanen Antworten zu neuen Fragen: von der inter-personalen Kommunikation mit dem Film zur intra-personalen Kommunikation mit mir selbst. Und damit sind wir dann beim grossen Dialog in dem kleinen Büchlein «Ich und Du» von Martin Buber.

 

... und Nachklingen

 

Gegen Schluss der Geschichte singt Akiko Yano ihren Song «Love Life», der dem Film den Titel gibt, zum Ausklingen und als Begleitung des wegspazierenden Liebespaares: «Egal, wie weit wir voneinander entfernt sind. Nichts kann mich abhalten, dich zu lieben. Die Zärtlichkeit unserer gemeinsamen Tage hat mein Herz weit geöffnet. Lass dich von mir beschenken mit dem Besten und nichts anderem. Love Life. Ich werde nichts anderes mehr verlangen. Auch wenn du mich nicht mehr anlächelst, bleib am Leben. Ich bitte dich. Zusammen mit mir. Ich werde nichts anderes mehr verlangen. Also bleib hier.»

Regie: Koji Fukada, Produktion: Länge: 123 min, Verleih: Sister Distribution