Loveless

Ohne Liebe kein Leben: Die Eheleute Boris und Zhenya in der Scheidung, dazwischen das ungeliebte Kind Aljoscha. Der Film «Loveless» des Russen Andrey Zvyagintsev schuf darüber ein Dokument erschütternder Gefühlskälte.
Loveless

Der ungeliebte Aljoscha

Der Film beginnt mit langen Aufnahmen eines verschneiten Waldes. Fast unmerklich schliesst die Rückblende an, die in den Herbst führt, in dem die Geschichte beginnt: Eine Schule, russische Fahnen an der Fassade, Kinder rennen auf den Hof, unter ihnen der zwölfjährige Aljoscha, der sich auf dem Weg nach Hause allein durch den Wald treiben lässt. Er findet ein Absperrband, bindet es an einen Stock, den er so hoch in einen Baum wirft, dass er sich im Geäst verhakt und das Band im Wind flattert. Flüchtige Augenblicke einer Harmonie, die zerbricht, sobald er zu Hause ankommt: zurück in einer schönen Mittelklasse-Wohnung in einem Hochhaus am Rande von Moskau, zurück im Trümmerfeld einer Familie beim Auseinanderbrechen. Eine halbe Stunde dauert es, bis erstmals einer ihrer Namen erwähnt wird. Vater und Mutter stehen vor der Scheidung. Sie wollen die Wohnung verkaufen. Doch wohin mit dem zwölfjährigen Jungen? Da verschwindet dieser. Niemand bemerkt es: nicht die Nachbarn, nicht die Eltern, nicht einmal die Überwachungskameras des Hauses zeichnen ihn auf, erst nach zwei Tagen meldet die Klassenlehrerin seine Absenz.

Der Film des russischen Regisseurs Andrey Zvyagintsev «Njeljubow» heisst wörtlich «Un-Liebe». Die englische Übersetzung «Loveless» trifft nicht genau.

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Die Noch- Ehefrau Zhenya

Ein Kind und die Politik

Aljoscha ist umgeben von Kälte und Aggression. Ihn will niemand: die Mutter nicht, der Vater nicht, die Oma nicht. Man kommt überein, dass nur das Heim bleibt. Doch wer sagt das dem Jungen? Niemand muss es ihm offenbaren, denn er sitzt nebenan und hört ihre Lieblosigkeiten, spürt sie wie Schläge. Siebzehn unerträgliche Sekunden lang zeigt die Kamera das stumm weinende Gesicht des Jungen im Dunkeln des Kinderzimmers, das Wohlstand bietet, aber keine Geborgenheit. Der Vater Boris hat seine neue Freundin Masha geschwängert und plant die Zukunft mit ihr, während die Mutter Zhenya sich in den um einiges älteren wohlhabenderen Anton verliebt hat. Trotzdem wohnen die Noch-Eheleute weiterhin zusammen und streiten sich ständig, worunter Aljoscha leidet, ohne dass sie es mitbekommen. Denn beide können mit ihrem Kind wenig anfangen, sie empfinden es als Last. Als es spurlos verschwindet, müssten sie zusammenarbeiten, um es zu finden, was ihnen aber nicht gelingt. Während die Polizei kaum etwas unternimmt, setzt ein gemeinnütziger Hilfsdienst bei der Suche nach dem Jungen alle Hebel in Bewegung.

Die Werke des russischen Regisseurs Andrey Zvyagintsev wirken auf den ersten Blick extrem naturalistisch, sind aber zugleich Film gewordene Metaphern existenzieller Befindlichkeiten. In Cannes erhielt er 2017 dafür den Preis der Jury. Diesmal treibt der Filmemacher den Realismus bis an die Schmerzgrenze. Zugleich schwelen unter den persönlichen Konflikten gesellschaftliche, ätzende Kommentare zum gegenwärtigen Russland. Bei der Mutter spiegelt sich die von Wladimir Putin zelebrierte Körperkult. Der Vater verkörpert die wohlhabende russische Mittelschicht mit der heiligen Dreifaltigkeit Politik, Justiz und Kirche. In Frage stellt der Film auch die Beziehung zwischen Sex, leeren Worten und der Liebe. Zudem entlarvt der Film die Polizei als Teil eines maroden Staatsapparats und zeigt, wie die Menschen vor den anti-ukrainischen TV-Propagandasendungen zunehmend in Depressionen verfallen.

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Der Noch-Ehemann Boris

In Russland und überall

«Loveless» tut weh. Die langen Einstellungen, die fliessenden Bewegungen, die langsamen Zooms sind kaum zu ertragen in ihrer Traurigkeit und Tristesse. Alle Figuren sind beschädigt, jede auf ihre Art: Zhenya ist aggressiv und hasst ihre Ehe, die der Flucht, nicht der Glückssuche diente. Boris beherrscht die Verdrängung, so dass ihn der Ausbruch aus seinem missratenen Eheleben wieder in die gleiche Sackgasse manövriert. Oma ist grausam, in Wirklichkeit aber einsam. Noch einsamer aber ist nur Aljoscha. Die Schauspieler vollbringen Herausragendes, allen voran der junge Matvey Novikov als Aljoscha.

Eigentlich erzählt der Film zwei Geschichten. Die eine könnte überall spielen: das Porträt einer Beziehung ohne Liebe. Die Menschen benutzen einander: Oma den Enkel, um den Schwiegersohn zu bestrafen; die Frau den neuen Mann, um rauszukommen; der Mann die neue Frau, um wieder anzufangen. Sie tun das alles nicht, weil sie böse sind, sondern weil sie nicht anders können. Die Wahrheit offenbart sich im Film nach dem Sex, im Augenblick grösster Intimität. Aufgrund der konsequenten Abwesenheit von Sympathieträger ist der inzwischen fünfte Film des Regisseurs noch schwerer erträglich als seine letzten. Er überrollt uns Zuschauer mit Wucht. Nachdem Zvyagintsev zunächst die Ehe von Boris und Zhenya seziert, treibt er die Spannung mit dem plötzlichen Verschwinden des Kindes auf neue Höhen und schnürt dem Publikum so zunehmend die Luft ab. Das Kind ist definitiv das unschuldige Opfer. Aber auch Boris und Zhenya sind nachvollziehbar Menschen aus Fleisch und Blut. Während die Atmosphäre immer bedrückender wird, entlockt der Kameramann Mikhail Krichman der Traurigkeit rund um eine gutbürgerliche Hochhaussiedlung trotzdem immer wieder poetische Bilder, untermalt mit der Musik von Evgeni Galperin, die beide dafür mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurden. Immer noch gebannt von der Geschichte fällt mir der Satz von Agnes von Strindbergs «Traumspiel» ein und verfolgt mich: «Es ist schade um den Menschen.»

Mein Kollege Pascal Blum hat den Regisseur interviewt und angemerkt: «Die Rolle der Mutter zu spielen, kann wohl nicht einfach sein», worauf Andrei Zvyagintsev geantwortet hat: «Als ich die weibliche Hauptrolle gecastet habe, sagt eine der Darstellerinnen, dass sie das Drehbuch in einem Rutsch durchgelesen habe und um zwei Uhr morgens, als sie fertig war, ins Kinderzimmer rübergeeilt sei, wo sie ihr Baby umarmt und gesagt habe: "Verzeih mir!" Solche Gefühle löste der Film bei ihr aus, und ich hoffe, dass der Zuschauer ein ähnliches Gefühl verspürt.»

Regie: Andrei Zvyagintsev, Produktion: 2017, Länge: 128 min, Verleih: cineworx