Mediterranean Fever
Waleed und Jalal, das ungleiche Freundespaar (v. l.)
Fünfakter über zwei Männer und ein Land
Mit etwas Fantasie kann «Mediterranean Fever» der 1970 in Nazareth geborenen Regisseurin Maha Haj als ein Fünfakter gelesen werden:
Prolog: Nach einigen Klavierklängen folgt die Einleitungsszene, die in der Geschichte eigentlich erst später zu platzieren wäre, verschweige ich.
1. Akt: Waleed, ein Palästinenser in Haifa, hat den Sohn Shams, die Tochter Nour und ist mit Ola verheiratet, die in einem Spital arbeitet und das Geld heimbringt. Denn der Mann ist depressiv und betätigt sich als Hausmann, beim Kinderhüten und schläft vor dem Fernseher. Am Geburtstag seiner Mutter Hana wird seine Depression offenkundig, auch der Vater Azis glaubt nicht mehr an eine die Schriftstellerkarriere seines Sohnes. Gleichwohl wird gefeiert, gegessen, getrunken, gesungen und getanzt. Feste sind, so meine Erfahrung aus Besuchen im Heiligen Land, eine Art Balsam der unter der Besatzung leidenden Bevölkerung, so auch bei Waleeds Depression. Ola möchte gerne mehr Kinder, Waleed nicht. Seit zwei Jahren geht er in die Psychotherapie, bezeichnet sie zwar als unnütz. Sein Sohn wird von der Schule krank gemeldet, muss zum sechsten Mal schon zum Arzt. Die russische Aushilfsärztin diagnostiziert bei ihm Mittelmehrfieber, eine im Mittelmeerraum auftretende genetische Krankheit.
2. Akt: Im unteren Stock des Hauses von Valeed in Haifa, im seit 1948 von den Israelis besetzten Westjordanland, zieht Jalal mit seiner Frau Raneen, die ebenfalls für die Familie das Geld nach Hause bringt, und ihren Kindern ein. Der Mann scheint im Baugewerbe tätig zu sein, wenn auch vieles nicht ganz durchsichtig ist.
3. Akt: Die beiden Männer treffen sich. Nach anfänglich gegenseitiger Ablehnung entsteht allmählich eher eine Streitbeziehung, als eine Freundschaft: Valeed, enttäuscht vom Leben, lebensmüde; Jalal, aktiv, witzig, politisch angepasst und im Alltag oft in dubiose Geschäfte verwickelt.
4. Akt: Ihre Annäherung besteht anfänglich darin, dass sie sich gegenseitig helfen. Valeed versucht es mit einem Kriminalroman, auf dessen Erscheinen sein Vater Azis wartet; Jalal lebt einen Krimi gleich selbst, bis Valeed in den Laptop tippt: «Was für ein schöner Tag! Soll ich Tee trinken oder mich erhängen? Anton Tschechow.»
Epilog: Eine Jagd am Schluss, die anders verläuft, als geplant, möchte ich ebenfalls verschweigen, dafür anmerken, dass im Nachspiel ein neuer Mieter die untere Wohnung bezieht, der Ameer heisst und Anästhesist ist.
Wie Maha Haj die Geschichte der zwei Männer in die Geschichte des Überlebens der Palästinenserinnen und Palästinenser verwebt, zeugt von grossem Können und ihrer Lebenserfahrung, kommt sie doch von dem von Haifa eine halbe Stunde entfernten Nazareth.
Familienfeste helfen zum Überleben
Notizen der Regisseurin Maha Haj: Über das Schreiben
Ich bin eine Filmemacherin mit Sinn für Humor und einem melancholischen Gemütszustand. Das brachte mich dazu, ein Thriller-Drama über Waleed zu schreiben, einen 40-jährigen aufstrebenden Schriftsteller, der unter chronischen Depressionen leidet. Durch diese fiktive männliche Figur habe ich meine Ansichten und täglichen Gedanken zum Äussersten getrieben. Ich kenne den Charakter von Waleed und bin mit ihm vertraut. Ich entwickelte eine Persiflage aus meiner dunklen Seite durch eine Person, die mir ähnlich ist, sich aber dennoch von mir unterscheidet. Während ich mit den Themen Leben und Tod spielte, trieb ich Waleed in extreme Bereiche, in die ich mich nie getraut hätte.
Mein erster Film «Personal Affairs» brachte die Identität von Palästinenserinnen und Palästinensern zum Ausdruck, die in Israel, im Westjordanland und im Exil leben. Die Figuren litten unter Frustration, Gefangenschaft und Hoffnungslosigkeit aufgrund der Komplexität ihres palästinensischen Daseins, dieselbe Frustration und Gefangenschaft, unter der Waleed als in Haifa lebender Palästinenser leidet.
Aus diesem Grund habe ich mich in diesem Film dafür entschieden, mich auf eine Persönlichkeit zu konzentrieren und die Depression eines Einzelnen im Gegensatz zur Depression einer ganzen Gesellschaft darzustellen. Man wird feststellen, dass Waleed im Leben eine liebende Frau, glückliche Kinder, bequeme Eltern und ein schönes Haus hat, Elemente eines erfolgreichen und glücklichen Menschen wie in einem Hollywood-Film. Genau hier setzt mein Verständnis von Depression an: Etwas Tiefes, Dunkles und Geheimnisvolles fehlt immer. Schliesslich gerät Waleed in eine Sackgasse und behauptet, dass nur er selbst wisse, wie sein Schicksal aussehen wird. Er beschliesst, seinem Leben ein Ende zu setzen und es so aussehen zu lassen, als wäre es ein natürlicher Tod, weil er die Verantwortung als Vater trägt.
Ich habe Waleed mit Jalal bekannt gemacht, einer Persönlichkeit, zu der ich mich immer hingezogen gefühlt habe. Jalal ist ein kleiner Gauner, optimistisch, voller Leben und zu bodenständig, um in Depressionen zu verfallen. Er ist das Gegenteil von Waleed. So entsteht aus ihrer Begegnung ein komisches Szenario, das Licht ins Dunkel von Waleeds Leben bringt. Die Welten, die die Beiden miteinander teilen, geben den Figuren Tiefe und einen Ausweg aus ihrer existenziellen Krise.
Depressiv heisst, nicht handeln können
... über den Dreh in Haifa
Ein Drittel der Bevölkerung von Haifa ist palästinensisch. Seit der Besetzung 1948 sind einige der Viertel und Bezirke zu Ruinen und vernachlässigten Armenvierteln verkommen. In diesen Vierteln habe ich die Aufnahmen gemacht, um die palästinensische Seite der Stadt zu zeigen. Der Film wurde im Herbst gedreht, um noch einmal den traurigen, gequälten Aspekt dieser Stadt mit dem wolkenverhangenen grauen Himmel und dem stürmischen dunklen Meer zu zeigen. Diese Farben und diese traurige Stimmung tragen zu Waleeds Depressionen und Qualen bei.
Da es sich um einen charakterorientierten Film handelt, war die Auswahl der Besetzung von grösster Bedeutung. Es ist interessant, dass die beiden Hauptdarsteller in einem völlig unterschiedlichen Prozess ausgewählt wurden: Als ich anfing, das Drehbuch zu schreiben, dachte ich sofort an Amer Hlehel als Waleed. Bei Jalal war das anders. Ich hatte keinen bestimmten Schauspieler im Kopf und es gab viele Vorsprechen für diese Rolle, alle waren gut, aber nicht Jalal. In der Minute, in der Ashraf Farah den Raum betrat und die erste Zeile las, sah ich Jalal und war meine Wahl sicher.
Depressionen haben keine Zukunft
... über den Titel und Waleeds Depression
Das «Fieber» betrifft Menschen, die im Mittelmeerraum leben, es ist mit diesem Ort verbunden. Der Film spricht aber auch über andere Krankheiten: politische, soziale und psychologische. Ich wollte diesem speziellen Ort durch eine spezielle Krankheit eine besondere Bedeutung verleihen. Es ist so, als ob diese Krankheit im Film tatsächlich vorkommt, aber in Wirklichkeit geht es mir um andere Krankheiten, solche, die nicht in einem medizinischen Labor untersucht, diagnostiziert und behandelt werden.
Waleed ist depressiv, aber «noch funktionsfähig», hat eine «hochfunktionale Depression». Waleed lebt seine Depression täglich, während er durch die Strassen geht, das Haus putzt, seinen Kindern ein Vater ist und in jedem Aspekt seines Lebens ein wahrer Mensch bleibt. Seine Depression umhüllt ihn und verschlingt ihn allmählich, doch er lebt sein Leben weiter. Ein Mensch, der an einer Depression leidet, ist keineswegs gleichgültig gegenüber dem Leben, gegenüber anderen oder gefühllos. Ganz im Gegenteil, er kümmert sich zu sehr um alles und die Welt in sich selbst. Das mag auch seine Besessenheit von der Politik erklären.
Zum Einbetten des Films in das Leben in Israel/Palästina hier ein paar, nicht mehr ganz aktuelle, Informationen:
Filme zu Israel/Palästina;Bibliografie zu Israel/Palästina.
Regie: Maha Haj, Produktion: 2022, Länge: 108 min, Verleih: First Hand Films