Melanies Chronik
Melanie, Alexander und Andrej Vanags
In der Nacht auf den 14. Juni 1941 wurden auf Stalins Befehl mehr als 40’000 Menschen in Estland, Lettland, Litauen und weiteren baltischen Staaten aus ihren Häusern geholt und in Viehwagons nach Sibirien deportiert. Darunter die Journalistin Melanie Vanags, ihr Ehemann Alexander, der Chefredaktor einer Zeitung für ein unabhängiges Lettland, und ihr achtjähriger Sohn Andrej. Das Paar wurde gewaltsam getrennt, er umgebracht, was sie erst spät vernahm, sie mit anderen Frauen und Kindern in einem sibirischen Dorf in Baracken gepfercht und zu Zwangsarbeit gezwungen.
Melanie will für ihren Sohn und ihren Mann am Leben bleiben. Die Kraft dazu schöpft sie, indem sie Hunderte von Liebesbriefen an ihren Mann schreibt, die nie abgeschickt werden, und indem sie ein Tagebuch führt. Trotz Hunger, harter Arbeit, Krankheit und Ungewissheit bewahrt Melanie ihre Würde. Nach sechzehn Jahren wird sie entlassen und kehrt zurück, nun in die «Lettische Sozialistische Sowjetrepublik.
Melanie kämpft für sich und die andern Frauen
Ein baltisches Drama
Der zehnte Film des 1971 geborenen lettischen Regisseurs Viesturs Kairišs, der auch als Theater- und Opern-Regisseur bekannt ist, gilt als authentischer Bericht über das historisch belegte baltische Drama mit seinen Wundern der Menschlichkeit. Der Spielfilm erzählt die Geschichte Melanies und anderer lettischer Frauen, die nicht exekutiert wurden wie die Männer, sondern leiden mussten, um körperlich und seelisch zu überleben. Stellvertretend für Millionen Frauen in aller Welt und zu allen Zeiten, die sich und ihren Kindern das Leben zu erhalten versuchen, während Männer dies mit ihrer Soldateska gewaltsam zerstören. Entstanden ist mit «Melanies Chronik» ein berührendes und aufwühlendes Dokument, von grosser Bedeutung für die Geschichte und Kultur Lettlands.
Der in Schwarz-Weiss gedreht Film erzählt die Chronik mit ausdrucksstarken Bildern (Kamera Gints Bērzinš) und hervorragenden Schauspielerinnen, vorab der 1975 in Bern geborenen, vielfach preisgekrönten Sabine Timoteo in der Titelrolle. Die Wirkung beruht wohl wesentlich auf der überzeugenden Darstellung von Gefühlen, Gedanken und existenziellen Befindlichkeiten der Frauen in der Verbannung: von Angst, Trauer, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, aber auch von Hoffnung und Liebe.
Nachdem Andrej und die andern Kinder und Jugendlichen nach Lettland zurückkehren durften, reagierte Melanie erst mit Schreien, dann mit einem schlichten Lied, in dem es heisst: «Ich bin hier allein, aber niemals einsam». Die sibirischen Landschaften spiegeln, im Sinne von «paysages d'âmes», die vielfältigen, manchmal fremden, manchmal vertrauten Gefühle der Protagonistinnen. Als auch Melanie nach dem langen Exil nach Riga zurückgekehrt war, traf sie bei ihrem ersten Gang im Opernhaus einen der Beamten, die ihre Familie einst deportiert hatten, der sie zynisch fragte: «Wie ist es in Sibirien?»
Landschaften als Seelenlandschaften
Eine allgemein menschliche Elegie
In einer Oper in Riga beginnt der Film mit der Arie «Un bel di vedremo» aus Puccinis «Madame Butterfly» und endet ebenfalls in der Oper bei Klängen aus «Farewell of Slavianka» von Vasiliy Agapkin. Unterbrochen wird der Bild- und Tonfluss mit Rückblenden und Vorschauen. Die Melodien, die zwischendurch zu hören sind, versetzen uns in das Gefühl eines Deliriums, und die schmerzhaft langsamen Bewegungen der hungernden, an Leib und Seele leidenden Frauen verleihen dem Werk die Atmosphäre eines Albtraums. All das vermittelt uns ein ganzheitliches und herausforderndes Filmerlebnis.
Das Sowjetregime deportierte 1941 die Elite der lettischen Gesellschaft sowie 7168 Frauen und über 2000 Kinder nach Sibirien. Die Familie Vanags gehörte dazu. An einem einzigen Tag entführten sie allein aus Lettland etwa 17'000 Menschen. Die nächste Deportationswelle folgte im März 1949. Melanie verfasste mit 86 Jahren ihren autobiografischen Roman, der auf ihren Liebesbriefen und Tagebuchnotizen basiert. Akribisch genau beschreibt er die Ereignisse der sechzehn Jahre, über die sie schrieb: «Im Krieg wussten die Menschen, wofür sie kämpften und was sie verteidigten. Und wenn sie ihr Leben aufgeben mussten, starben sie mit der Überzeugung, dass ihr Tod anderen helfen würde, zu überleben. Hier aber wurde niemand auf Anhieb getötet; hier wurden die Menschen durch Hunger und die Elemente zerstört. Niemand konnte für solche Morde zur Verantwortung gezogen werden. Die Menschen starben von selbst. Im Namen einer Idee wurde ich zu einem der dreizehn Millionen Opfer und um die besten Jahre meines Lebens betrogen, meinem Kind wurde seine Gesundheit und seinem Vater das Leben genommen.»
Liebesbriefe und Tagebuchnotizen bis ans Ende
Das Leben beim Überleben
Melanie und ihr Sohn mussten überleben: die dreiwöchige Fahrt in das abgelegene Dorf, die ersten Monate in der fremden Umwelt, Hunger, Krankheiten und Angst. Dann mussten sie lernen zu leben, mit dem Leben wieder Frieden schliessen, auch wenn alles seinen Sinn verloren zu haben schien. Das trieb einige zum Zusammenbruch und zum Selbstmord. Melanie überlebte, sie begann ein neues Leben. In ihrem Innern gab es «nur eine Saite, die klingt, und diese Saite heisst Hoffnung.»
Sie selbst glaubte nicht mehr, nach Lettland zurückkehren zu können. Doch 1957 wurde sie freigelassen, ging sogleich nach Riga, wo sie herauszufinden suchte, wer überlebt hatte. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie damit, an die Hoffnung zu glauben, in sich etwas wachsen zu lassen und zu bewahren, was stärker ist als Hungersnot, Kälte, Grausamkeit und der Tod. Sie übernahm, wie schon im Lager, Verantwortung für andere Menschen. Im Buch und im Film gibt es keinen Hass und keine Rache, sondern nur Liebe und eine Sehnsucht, die am Leben hängt und Leben schafft. Ihr Kommentar über die Welt, am Schluss des Films, ist denn auch einfach und gleichzeitig eindringlich: «Schönes Land, blauer Himmel, nette Menschen».
Regie: Viestur Kairišs, Produktion: 2016, Länge:105 min, Verleih: Mythenfilm