Miele
Ihr Vater und auch ihr Liebhaber glauben, dass sie immer noch Medizin studiere. Tatsächlich aber hilft sie unter dem Decknamen «Miele» unheilbar kranken Menschen, zu sterben. Dies verlangt, wenn es würdig geschehen soll, eine sorgfältige Planung, durchgeführt am Rande der (italienischen) Legalität und mit Blick auf das Postulat der Nächstenliebe. Eines Tages trifft Miele auf einen pensionierten Ingenieur, der kerngesund ist, aber nicht mehr leben will. Bei der Begegnung mit ihm beginnt für sie eine innere, sie erschütternde Auseinandersetzung.
Existenzielle Herausforderungen …
Der todeswilligen, mit dem Leben versöhnten Frau am Anfang des Films, begleitet von ihrem Ehemann und Irene, folgt man betroffen und mitleidend. Ähnlich verhält es sich beim behinderten jungen Mann, dessen Sprache nur seine Mutter versteht. Und doch schleichen sich bereits hier, mit Blick auf behinderte Menschen, die wir kennen, leise Unwohlsein und Zweifel ein. Richtig schwierig wird es für Irene – und wohl auch für uns – beim körperlich gesunden, doch verbitterten und lebensmüden Ingenieur Grimaldi, der sein Leben beenden will.
So läuft während eineinhalb Stunden eine innere Story ab. All die Fragen, die Irene sich stellt, werden «durchdekliniert» und die Handlungen dazu «durchkonjugiert». Die äussere Story handelt von einem ganz normalen Alltag: Szenen aus dem Leben einer jungen, lebenslustigen Frau, die joggt, Rad fährt, schwimmt, tanzt, streitet, sich verliebt und Liebe macht. Diese Normalität des Lebens bringt dem Publikum das Fremde des Freitodes nahe.
Das intensive Fragen, wie das Leben zu Ende gehen soll, bekommt im Blick auf die Veränderungen in unserer Gesellschaft eine neue und entscheidende Bedeutung. In den Achtzigerjahren waren es die Fragen nach dem Lebensbeginn respektive dem Schwangerschaftsabbruch. Heute und wohl auch morgen ist es die Frage, wie das Leben enden soll. Wertvoll ist es, dass darüber heute immer häufiger ein öffentlicher Diskurs stattfindet, differenziert und nachvollziehbar auch in diesem Film.
Irene (Jasmine Trinca) mit dem Ingenieur Carlo (Carlo Cecchi)
… für heute und morgen
Fragen über das Lebensende öffnen sich in diesem Film wie ein Fächer: Beginnend mit der Verweigerung medizinischer Eingriffe. Gefolgt von den Möglichkeiten der palliativen Medizin und den Hospizen. Fortgefahren mit den verschiedenen Formen von Patientenverfügungen. Weiter mit der passiven und der aktiven Sterbehilfe. Abschliessend mit den Formen des Suizides, über welche wir als Zugreisende immer wieder mit der Durchsage eines «Personenunfalls» informiert werden. – Zu all diesen Fragen, die Irene denkt, erlebt und zu beantworten versucht, gibt es keine verbindlichen, allgemeingültigen Antworten.
Die Regisseurin Valeria Golino hat sich bislang vor allem als Schauspielerin einen Namen gemacht. Etwa mit Rollen in Barry Levinsons «Rain Man» oder Julie Taymors «Frida». «Miele», ihre erste Regiearbeit, überzeugt durch eine sensible und beeindruckende Geschichte, bei der das Innen im Aussen erfahrbar gemacht wird. Im alltäglichen Sinne ist «Miele» vielleicht für Einzelne nicht unterhaltend, im tieferen Sinn jedoch schon unter-haltend, nämlich als Unterhalt für die Seele. Er ist not-wendig, kann die Not des Nicht- oder Wenig-Wissens zu einem Mehr- und Besser-Wissen wenden.
Irene, pendelnd zwischen Städten und Einsätzen
Aus einem Interview mit der Regisseurin Valeria Golino
Wie sind Sie auf das Buch «Vi perdono» gestossen?
Vor fast drei Jahren las ich eine interessante Kritik des Romans. Das Thema hat mich sofort angezogen. Die Journalistin schrieb unter dem Pseudonym Angela del Fabbro. Das hat mich beeindruckt und vermuten lassen, sie verstecke ihre Identität wie Miele in meinem Filmprojekt. Noch mehr hat mich fasziniert, dass das Buch in der ersten Person und sehr detailliert geschrieben ist. Also dachte ich, es handle sich um eine wahre Geschichte. Erst ein Jahr später, als die Arbeit an unserem Drehbuch schon fortgeschritten war, erfuhren wir, dass der Romanschriftsteller Covachic Mauro der Autor des Buches ist.
Was hat Sie bewogen, den Roman als Spielfilm auf die Leinwand zu bringen?
Erstens ist Euthanasie in Italien, mehr als in jedem andern europäischen Land, ein Tabu. Dies wohl vor allem wegen des grossen Einflusses des Vatikans und unserer katholischen Vergangenheit. Doch ich habe das Gefühl, dass selbst dann, wenn das italienische Volk für diese und andere ethische Fragen bereit sein wird, die Politiker nicht mitmachen. Ich wollte diesen Film auch drehen, weil der Roman eine filmische Dimension hat. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas hat das Buch ein grosses visuelles Potenzial. Die Hauptfigur Miele ist voll Lebensfreude, trotz ihrer ständigen Kontakte mit Schmerz und Tod. Dieser Kontrast hat mich verführt.
Das Thema Sterbehilfe ist wohl dominant. Doch der Film handelt neben den moralischen Fragen über die Sterbehilfe auch von der Entwicklung einer jungen Frau. Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich glaube, dass jeder Mensch ein Recht haben soll auf eine Kontrolle über seinen Körper, sein Leben und das Ende seines Lebens. Nachdem dies nun gesagt ist, will ich aus diesem Film kein Manifest machen. Darüber hinaus gibt er keine Antwort, er stellt Fragen. Ich wünsche mir, dass der Film Änderungen in den Überzeugungen, Vorurteilen und Ängste bewirkt.
Seit wann hatten Sie Lust, selber Filme zu realisieren?
Erst seit Kurzem. Ich liebe Kino und Fotografie, und nach so vielen Filmen, in denen ich Schauspielerin war, hatte ich eine Menge Dinge über das Metier gelernt, ohne es zu merken. Ich hatte nie bewusst geplant, Regisseurin zu werden, bevor ich vor drei Jahren gebeten wurde, einen kurzen Film, «Armandino e il madre», zu realisieren. Während des Drehs hatte ich eine persönliche Offenbarung: eine Berufung, die ich vorher nie kannte.
Regie: Valeria Golino
Produktionsjahr: 2013
Länge: 93 min
Verleih: Filmcoopi