Mon tissu préféré
Nahla mit ihrem Traummann
Damaskus im Frühling 2011: Die 25-jährige Nahla ist hin- und hergerissen zwischen ihrem brennenden Wunsch nach Freiheit und einem Leben in Anpassung, in der Zeit des beginnenden Bürgerkriegs unter Bashar al Assad. Eine arrangierte Ehe mit Samir könnte sie in die sichere USA führen. Doch sie begibt sich lieber in den Salon der geheimnisvollen Jiji zwei Stockwerke höher, wo sie die wahre Liebe sucht. Ort, Figur und Idee erinnern an Luis Buñuels Film «Belle de Jour». Die Hausherrin Jiji bietet Nahla Erfüllung ihrer Wünsche. Der Regisseurin gelingt es, uns Nahla am Anfang abweisend und kalt vorzustellen und sie anschliessend dennoch als Trägerin wichtiger Aussagen zu positionieren. Was hier real abläuft oder geträumt wird, ist eingehüllt in eine faszinierende, wenn auch verunsichernde, an «Tausend und eine Nacht» anklingende Atmosphäre.
Gaya Jiji, die 1979 in Damaskus geborene, seit 2012 in Paris lebende Regisseurin bündelt in ihrem ersten Landspielfilm «Mon tissu préféré» ihre im bisherigen Leben im Islam gemachten schmerzhaften und freudvollen Lebenserfahrungen und verwebt sie gegen Schluss in real geträumten und geträumt realen Szenen zu einer intensiven melancholischen und sehnsüchtigen Stimmung, die uns umfasst. Die feinsinnig schwebende Bilderwelt von «Mon tissu préféré» ist das Werk der sensiblen Kamera von Antoine Hérbelé, der assoziativen Montage von Jeanne Oberson und der wenig eingesetzten sphärischen Musik von Peer Kleinschmidt. Sie entführt uns in jene sinnliche Welt der Wünsche, Erinnerungen und Befürchtungen, wie wir sie aus den arabischen Märchen kennen, und lässt uns eintauchen in die Intimität östlicher weiblicher Erotik. Umfassend gestaltet haben den Film Gaya Jiji, die Regisseurin, und Nahla, die Protagonistin. Dabei gilt: Nahla ist Gaya!
In den nächtlichen Taxifahrten von der Arbeit nach Hause entdeckt Nahla auf den Hausdächern Scharfschützen, und tagsüber, wenn sie nicht arbeitet, beobachtet sie Soldaten, die in Jijis Salon verkehren, womit auch der Krieg in die Liebesgeschichte eingebunden wird. Während Syrer sich auf den Strassen für Freiheit einsetzen, zieht Nahla sich ständig zurück, bis sie das Haus gar nicht mehr verlässt. Aussenaufnahmen werden selten, auch die Stadtansichten des vorrevolutionären Damaskus. Die Ereignisse von draussen dringen nur noch durchs Fernsehen ins Haus. Eines Tages mietet Nahla sich bei Jiji ein. Denn diese verkörpert für jene das Ziel ihrer Sehnsucht: einen Ort der uneingeschränkten, verbotenen, verdrängten oder für Momente gelebten Träume. Der Name der Salonbesitzerin ist auch der Name der Regisseurin: Jiji die Darstellerin ist Jiji die Drehbuchautorin! Bewusst gemacht wird ihr das erst so richtig, wie sie als stumme Voyeurin im Salon hinter dem einseitig verspiegelten Glas erlebt, wie Frauen und Männer miteinander Liebe machen oder es wenigstens zu machen versuchen. Erst am Schluss öffnet sich der Film nochmals auf die Landschaft und die Politik, jetzt jedoch die vom Bürgerkrieg zerstörte.
Kurze Momente des Glücks
Ausschnitten aus einem Interview mit Gaya Jiji
Weshalb der Titel «Mon tissu préféré»? Weil es ein sinnlicher Film ist. Und der Stoff den Körper berührt. «Mon tissu préféré» ist der Wunsch von Nahla, der Heldin, ihren Körper von einem bestimmten Stoff berühren zu lassen, ein Wunsch, der eine Wahl ist. Ihre Entscheidung. Meine Geschichte handelt von der Beziehung dieses Mädchens zu ihrem Körper.
Ist dies ein spezifisch orientalischer und feministischer Zugang zur Sinnlichkeit? Als Filmemacherin aus dem Nahen Osten ist die Frage nach der Frau ein Schlüsselbegriff und offensichtlich intim. «Mon tissu préféré» ist ein sehr persönlicher Film. Nahla bin ich.
Was war der politische Stand in Damaskus, Syrien, zum Zeitpunkt des Filmes? Als ich Ende 2010 und 2011 in Damaskus anfing, den Film zu schreiben, begann der Bürgerkrieg. Das Schreiben war der einzige Ausweg aus der allgemeinen Qual, die aufstieg und die wir alle spürten. Ich habe den ganzen Beginn der Revolten miterlebt. Es war unmöglich, diesen Kontext geheim zu halten. Unbewusst erinnerte mich die Gewalt von Krieg, Unterdrückung und Aufständen an die innere Gewalt, die ich zu Papier gebracht hatte. Der Film ist zu meiner persönlichen Interpretation dieses schrecklichen Konfliktbeginns geworden.
Momente der Selbstbejahung für Nahla
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen diesen Erfahrungen? Ja. Die Suche nach Identität. Wir lebten in einer Gesellschaft, die alle unsere Wünsche unterdrückte. In einem Land wie Syrien zu leben, war für Frauen damals schwierig. Erstens die mangelnde Wahrnehmung unserer Sexualität, die Besessenheit von weiblicher Jungfräulichkeit, wir können keinen Sex vor der Ehe haben etc. Das sind Dinge, die ich erlebt habe und die im Mittelpunkt des Filmes stehen. Ich entwickle darin meine Beziehung zu meiner Sexualität. Was bedeutet es, eine Beziehung mit einem Mann zu haben? Spass daran zu haben? Ich bin in einer Gesellschaft, in der mir alles genommen und verboten wird. Ich habe keine Meinungsfreiheit. Ich habe nicht die körperliche Freiheit, das zu tun, was ich will. Ich darf nicht einmal träumen, denn der «optimale» Traum einer Frau im Nahen Osten ist, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, die Geschichte im Herzen eines Frauenhauses zu entfaltet? Ich komme aus einem Umfeld, in dem Frauen viel Autorität haben. Das ist die Schizophrenie der östlichen Gesellschaft: In der Familie haben Frauen viel Autorität, sind Entscheidungsträgerinnen, doch gleichzeitig werden ihnen viele Dinge vorenthalten, darunter die sexuelle Freiheit. Ich war immer von starken Frauen umgeben. Die Männer waren nur am Rande da. Es ging um die Entscheidungen der Frauen. Schliesslich sind die Frauen meiner Familie repräsentativ für die damalige syrische Gesellschaft. Jeder ist überzeugt, den anderen glücklich zu machen. Die drei männlichen Figuren im Film drehen sich um die weiblichen Wünsche.
Nahla, besorgt in die Zukunft blickend
Es gibt auch Madame Jiji, die Nachbarin oben, die ebenfalls von einer bestimmten Autorität geprägt ist, aber frei. Warum dieser Charakter? Ich wählte eine Figur, die der Mutter völlig entgegengesetzt ist. Sie ist eine Frau, die einem Ort vorsteht, an dem alles erlaubt und möglich ist. Und ich wollte, dass es eine Nachbarin ist, dass es eine Verbindung zwischen der Welt unten und der Welt oben gibt. Wenn Nahla zu Jiji geht, macht sie einen Schritt auf das zu, was sie sucht: ihr Wesen, ihre Sexualität. Es wirkt wie eine Grenze, die sie dank dieser Treppen überschreiten will. Wenn sie nach oben geht, sagt sie zu sich: Das ist der Moment, in dem sich meine wahre Persönlichkeit, von der ich noch nichts weiss, ausdrücken wird. Ich suche ein Abenteuer und entdecke mich selbst.
Gegenüber Madame Jiji, dem Symbol der Befreiung, haben Sie den Charakter des möglichen Ehemanns kreiert. Warum ist er wichtig? Er ist ein Charakter, den ich gut kenne. Auch er ist einer aus meiner Realität. Ich habe diese Situation schon mehrmals erlebt. Ich stand vor einem Verehrer, einem in Amerika lebenden Syrer, der in seinem Herkunftsland nach einer «guten» Frau suchte. Jedes Mal war ich überrascht, dass diese Männer, die in jungen Jahren gegangen sind, um in freieren Ländern mit offeneren Sitten zu leben, in Wirklichkeit sehr verschlossen blieben.
Wollten Sie zeigen, dass dieser Charakter auch nicht frei ist? Ja, diese Männer sind Gefangene der Tradition, sie kommen nach Syrien, um eine Frau zu suchen, die Jungfrau und gehorsam ist, weil sie keine emanzipierte Frau wollen. Im Film ist dieser junge Mann ein unterdrückter Charakter, ohne es zu wissen, er ist Teil der Vergangenheit, ist auch ein Opfer. Ich meine auch, dass die Menschen im Nahen Osten Opfer dessen sind, was sie für ihre Männlichkeit halten, des Bildes, das ihnen unsere Gesellschaft vermittelt und aufzwingt. Sie sind nicht freier als Frauen.
Regie: Gaya Jiji; Produktion, 2018, Länge: 96 min, Verleih: First Hand