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Nationale 7

«Ich habe (in diesem Film) die Geschichte erzählt, die ich von meiner Schwester Julie gehört hatte, die als speziell ausgebildete Pflegerin in einem Heim für körperlich Behinderte in der Nähe von Toulon arbeitet ...

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... Eines Tages brach einer der Bewohner dieses Heims, der sehr jähzornig von Charakter war und sich die Zeit damit vertrieb, andauernd das Personal zu beleidigen, vor ihr in Tränen aus. Er gestand ihr, dass er mit einer Frau schlafen wolle, und bat sie, eine Prostituierte für ihn zu finden, da er wusste, dass eine normale Frau sich nicht mit ihm einlassen würde. Also ist meine Schwester die Route Nationale entlang gefahren...» So schreibt der 1949 geborene Jean-Pierre Sinapi, wie er zu seiner Geschichte «National 7» kam.

Entstanden ist nach dieser Erfahrung mit behinderten Menschen eine wunderbare, leichtfüssige, von Leben prall volle Komödie über Behinderung, im Speziellen die Behinderung der Sexualität der Behinderten. Entstanden ist gleichzeitig das Porträt eines Behindertenheims im «Ausnahmezustand», in welchem ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen und Schicksalen herrscht, wo gerade wegen seiner Extremsituation das Allgemeingültige sichtbar wird. Mit einem aufmerksamen Blick für die verborgene Zärtlichkeit, aber auch einem unbestechlichen Blick für die Absurdität des Alltags der Heiminsassen und des Heimpersonals lässt Sinapi seine Figuren so lange im Netzt ihrer Emotionen zappeln, bis sie gelernt haben, für ihr Glück selbst einzustehen.

Ein dokumentarischer Spielfilm

Der Film beginnt wie ein Dokumentarfilm über das Leben im Behindertenheim, über Menschliches und Allzumenschliches und gibt uns immer wieder das Gefühl, dass wir uns in einem wirklichen Heim aufhalten – was auch zutrifft. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, weil Sinapi mit einer kleinen Digitalkamera gearbeitet hat, der Kameramann (Jean-Paul Meurisse) damit sehr nahe an die Schauspieler und Behinderten heran konnte und, besser als in einigen dänischen «Dogma»-Filmen, die innere Erregung durch die Kamera auszudrücken verstand.

Das Miteinander von Schauspielern und Behinderten dürfte ebenso verantwortlich sein für die Ehrlichkeit und Authentizität des Films. Und schliesslich liegt der Eindruck des Realistischen in der Tatsache begründet, dass die Geschichte wirklich geschehen und von einer Fachperson erlebt und erzählt wurde.

Deuten und Bedeuten

Das Umkippen des Dokumentarischen ins Fiktionale, vom kritischen Dokument ins fantastische Märchen ist für mich mehr als Zufall. Es sagt symbolisch, dass das Faktische nur durch das Geistige überwunden werden kann. «La phantaisie surpasse la réalité», hiess es 1986 an der Sorbonne in Paris. Der Film gipfelt im wunderschönen Fest nach der Taufe von Rabah, dem schwulen Kranken, der vom Islam zum Katholizismus konvertiert, das zahlreiche Klischees über den Haufen wirft.

Das Thema der Sexualnot von behinderten Menschen ist bekannt und wird diskutiert. Der Film aber diskutiert es nicht, sondern zeigt Bilder davon, spielt sie aus. Vieles deutet er, gibt ihm Be-Deutung. «Es braucht Behinderte, es braucht Schwarze und Schwule ..., die mitreden..., damit es eine Welt gibt, in der verschiedene Menschen in verschiedener Art und Weise leben können», meinte Peter Wehrli, der Geschäftsführer des «Zentrum für selbstbestimmtes Leben» kürzlich in einer Diskussion.

Der Film bedeutet, dass Behinderung im Sinne von Irren (nach dem «Errare humanum est» der Römer), von Begrenztheit (der subjektiven Fähigkeiten und objektiven Möglichkeiten) und schliesslich der Endlichkeit (unserer irdischen Existenz) wesentlich zum Mensch-Sein gehören.

Er deutet aber auch an, dass Sexualität für uns alle eine Herausforderung ist, die Grenzen sprengt. «Wir müssen versuchen, Wunsch und Realität miteinander in Einklang zu bringen. Auch darum geht es in diesem Film, in dem die Gesunden es auch nicht leichter haben als die Behinderten», meint der Regisseur, und ich erinnere mich an die scheuen und zarten, nicht immer gelingenden Beziehungen von Julie, der neuen Pflegerin, die den Prozess im Heim erst eigentlich in Gang setzte.

Soll der Film beim Publikum eine Not wenden, notwendig sein, dann braucht er unser Mittun. Darüber nachzudenken und zu diskutieren, lohnt sich für alle, doch vor allem für Professionelle in der Behindertenarbeit.

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