No Bears

Ein Höhepunkt oder vielleicht das Ende: Der Iraner Jafar Panahi hat mit dem Film «No Bears», trotz Berufsverbot, ein künstlerisches, politisches und moralisches Meisterwerk geschaffen – und es am Schluss gleich selbst infrage gestellt. Ab 27. Juli in den Kinos
No Bears

Jafar Panahi filmt Jafar Panahi

 

In «No Bears», seinem 24. Film, erzählt der 1960 geborene, vielfach ausgezeichnete iranische Meister Jafar Panahi zwei Liebesgeschichten, die eine in der Stadt, die andere auf dem Land. Von Teheran aus versuchen Zara und Bakhtiar, mit gefälschten Pässen aus der islamischen Republik nach Frankreich zu flüchten. Diese Geschichte lässt der Regisseur durch seinen Assistenten Reza filmen, denn er wurde im Juli letzten Jahres erneut inhaftiert, auf Kaution zwar, doch mit Drehverbot freigelassen. Unerkannt ist er in der Provinz nahe der iranisch-türkischen Grenze, von wo er über eine höchst instabile Internetverbindung seiner Crew Anweisungen gibt und wo ihm heimlich die Festplatte mit den Filmaufnahmen übergeben wird. Das ist Fiktion: Panahi dreht über Panahi einen Film im Film.

 

Die Liebesgeschichte in der Stadt wird durch die Regeln des Staates verunmöglicht, jene auf dem Land durch die Traditionen. Im Dorf, wo er versteckt lebt, macht er Fotos der Bevölkerung. Eines davon soll von einem Paar stammen, auf dem anstelle des Verlobten ein heimlicher Liebhaber der jungen Frau abgebildet sein soll. Das gibt Aufregung, es kommt zu Tumulten, bis Jafar schliesslich angeklagt wird und sich mit einem kuriosen Schwur loskaufen muss.

 

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Beim Geburtstagsfest

 

Geniales Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit

 

Wie in früheren Filmen bringt Jafar Panahi in «No Bears» autobiografische Erfahrungen ein und macht seine ungewohnte Weise des Filmens als Zeichen seiner Kritik transparent. Mit dieser Methode hat er immer wieder eindrucksvolle, wenn auch gefährliche, doch meist erfolgreiche Werke geschaffen. Der neue Film gewann an den Filmfestspielen von Venedig 2022, wo der Autor, zwar auf Kaution freigelassen, doch seines 2010 verhängten zwanzigjährigen Berufs- und Reiseverbots wegen nicht anwesend sein konnte, den Spezialpreis der Jury.

 

Immer wieder hat er, wie seine Kollegen, mit Zensur und Repression des politischen Systems zu kämpfen, dem ihre Werke ein Dorn im Auge sind und in den Kinos nicht gezeigt werden. Sein Film «Das ist kein Film» beispielsweise wurde einst aus dem Lande geschmuggelt, indem man den USB-Stick mit dem ganzen Material in einem Kuchen versteckt hatte. Inzwischen sitzt der Regisseur erneut im Evin-Gefängnis in Teheran.

 

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Auf dem Land untergetaucht

 

Hier gibt es keine Bären

 

Auch mit «No Bears» befasst sich Panahi erneut mit der iranischen Politik und Gesellschaft. Obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte, ist daraus kein aggressiver Film geworden, sondern zeigt er sich überraschend versöhnlich. So nebenbei wird der Titel erklärt: Ein Dorfbewohner warnt ihn davor, nachts das Haus zu verlassen, weil dann Bären kommen. Kurz danach erfährt er, es gebe hier überhaupt keine. Doch wenn die Bären nicht real sind, so gibt es die Angst vor ihnen, und diese ist real und mächtig.

 

In dieser Metapher finden sich die Kernelemente des Films. Es geht um unsichtbare Mächte und deren Einfluss auf das Leben und die Gesellschaft. Der Film zeigt diese nie direkt, doch wir erleben es, wie sie alles kontrollieren. Als sich der Regisseur in der Wüste mit seinem Assistenten trifft, fragt er diesen, wo sich die türkische Grenze befinde. Dieser antwortet ihm belustigt, er stehe gerade darauf. Da weicht Jafar zurück, denn seine persönliche Grenze befindet sich genau da, wo er das Land nicht verlassen darf.

 

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Die Bilder der Dorfbewohner in Jafars Kamera

 

Hier das Gesetz, dort die Tradition

 

«No Bears» ist eine vielschichtige Parabel über den beklemmenden Stillstand einer Gesellschaft und die panische Ablehnung jeder Veränderung: ausgeführt in den zwei Liebesgeschichten, die durch die staatlichen Gesetze und die überlieferten Traditionen verunmöglicht werden, sowie in der durch Verbote eingeschränkten Art und Weise des Filmemachens.

 

Dies dokumentiert auch den eigenwilligen Status Panahis als Grenzgänger zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm, Fiktion und Non-Fiction. Vielleicht ist dieser Film mit seiner besonderen Form der vorläufige Höhepunkt seines umfangreichen Oeuvres. Seine autobiografischen Erfahrungen und die Entstehungsgeschichte sind Zentrum der Erzählung und werden zum Gegenstand der Reflexion, auf einem Niveau, das ihn nach meiner Meinung als einen der wichtigsten Filmemacher der Gegenwart auszeichnet.

 

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Mieter und Vermieter im geheimen Gespräch

 

Die Mächte, die im Dunkeln wirken

 

Die Dorfbewohner begründen ihre für Jafar irritierenden Handlungen mit verschiedenen Traditionen, Riten und Gebräuchen. Diese scheint zwar niemand mehr zu verstehen oder für sinnvoll zu erachten, sie hinterfragen oder aufgeben möchte dennoch niemand. Zwischen den sich streitenden Parteien befinden sich unsichtbare Barrieren, die nicht aufgehoben werden können und eine konstruktive Kommunikation verunmöglichen. Panahi beschreibt in «No Bears», bedingt durch die Gesetze des «Obersten Führers», des Religionsführers, Revolutionsführers, Oberbefehlshabers der Armee und, in der Scharia begründet, auch des obersten Richters, Ali Chamenei, einen beklemmenden gesellschaftlichen Stillstand, abgesichert von der panischen Ablehnung jeder Veränderung.

 

Pahanis Humor ist untrennbar mit der die Alternativlosigkeit dieser Welt bedauernden Melancholie verbunden. Das europäische Denken hat die Aufklärung, die für Weiterentwicklung steht. Hier gibt es nichts Vergleichbares. Im Film funktioniert die Auseinandersetzung lediglich ansatzweise zwischen dem aufgeklärten intellektuellen Stadtmenschen und der abergläubigen Dorfbevölkerung.

 

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Zara, neben Bakhtiar, schleudert ihre Wahrheit Jafar ins Gesicht

 

Ein Ende – oder vielleicht doch nicht

 

Jafar Panahi stellt in «No Bears», wofür er nochmals grossartig auf der Klaviatur des Filmens gespielt hat, provokative, radikale, existenzielle Frage zum Kino und zur Kunst: Wie schafft man Kunst, die daran interessiert ist, die Gesellschaft umzukrempeln, wenn die Menschen so funktionieren, dass sie an einer Veränderung gar nicht interessiert sind? Er behandelt dies angesichts der Situation im Gottesstaat Iran. Doch, so meine ich, könnten wir dies ohne viel Aufwand mit ähnlichem Ergebnis auch in unserer vom Kapitalismus vernebelten Welt tun.

 

«Es wird Blut fliessen», heisst es irgendwo im Film. Als Publikum wundert man sich, dass zwei dieser Todesfälle nicht dem iranischen Regime zuzuschreiben sind, sondern dem Filmprojekt von Jafar Panahi. Damit führt er uns mit Fakten in unerwartetes Neuland: Noch nie hat er das System seines Landes so radikal kritisiert wie hier, noch nie seine formale Meisterschaft so exzessiv eingesetzt, noch nie seine politische und künstlerische Arbeit so existenziell infrage gestellt.

 

Das Ende beginnt damit, dass Zara den überraschten Jafar anschreit: «Der Film basiert auf unserem Leben, doch das alles ist Theater, hören Sie auf, alles hier ist fake», und Bakhtiar fährt heulend weiter: «Schlimmer als Haft, Folter und Exil waren mein Lügen.» Und die Geschichte schliesst dramatisch und tragisch ab. Auch wenn ich nicht alle Fäden des Erzählstrangs ganz entwirrt und deren Aussagen ganz verstanden habe, scheint es mir klar, dass der Filmemacher sich am Schluss Fragen stellt, die er in dieser Intensität noch nie gestellt hat: über sein politisches Engagement, seine künstlerische Arbeit als Filmemacher.

 

Zugespitzt: Ist Kunst überhaupt richtig, zielführend und menschlich. Was dabei in seinem Innern vorgeht, verraten uns die letzten Bilder mit ihm als Akteur seiner selbst: sein Gesicht, sein Blick, seine Mimik, seine Haltung. «No Bears» endet während der von allen Seiten verlangten Abfahrt des Regisseurs im Auto: mit dem lauten Ton einer angezogenen Handbremse. Ein zumindest akustisch brutaler Stopp! So kann es nicht weitergehen! – Oder doch? Vielleicht anders? Aber wie? So beginne ich zu sinnieren, weil ich Jafar Panahis Nein kaum ertragen kann, was im Gottesstaat Iran von den Mullahs durchgesetzt und vom Westen diplomatisch toleriert und sogar unterstützt wird.

 

Regie: Jafar Panahi, Produktion: 2022, Länge: 108 min, Verleih: Filmcoopi