Nord

Das skandinavische Kino beschert uns immer wieder Porträts von schrägen Vögeln. Nun bringt der Norweger Rune Denstad Langlo einen weiteren Film über einen ungewöhnlichen etwas queren Menschen. Er bietet Anlass, über menschliche Begegnungen nachzusinnen.

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Jomar schläft, raucht und trinkt ziemlich viel, mit Vorliebe hochprozentigen Alkohol. Seit ein Unfall seine Sportkarriere beendet hat, gibt er sich als Skiliftwärter in der verschneiten Einöde Norwegens seinem Selbstmitleid hin. Als er erfährt, dass er hoch im Norden einen vierjährigen Sohn haben soll, begibt er sich mit seinem Schneemobil und einem Fünf-Liter-Kanister Alkohol als einzigem Proviant auf eine ebenso kuriose wie poetische Reise: zum Sohn, zu sich, zu uns.

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Unterwegs durch atemberaubende Landschaften Richtung Polarkreis begegnen ihm allerhand seltsame Gestalten. Ein einsames junges Mädchen, ein lebensmüder Greis, eine fröhliche Panzerfahrergruppe und ein Junge mit ziemlich originellen Trinkgewohnheiten weisen Jomar den Weg zurück ins Leben.

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«Nord» ist ein skurriles Road-Movie, so komisch und rührend wie David Lynchs «Straight Story» und gleichzeitig eine präzise Beobachtung und Deutung der absurden Seiten des menschlichen Seins. Im Theater und im Film nehmen die Kreativen das Stilmittel des Absurden meist dann zu Hilfe, wenn es darum geht, kaum wahrnehmbare Verhaltensweisen und selbstverständliche Routineabläufe vor Augen zu führen und ins Bewusstsein zu rücken. Der norwegische Dokumentarfilmer will mit diesem Spielfilm wohl sichtbar und erkennbar machen, was Begegnungen sind oder sein können.

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Detailbeobachtungen

Der Begriff Road-Movie steht in Hollywood für das, was in der europäischen Philosophie und Kunst unter dem Titel des «Homo viator», des «Menschen auf dem Weg», diskutiert wird. Auf-dem-Weg-Sein als Existenzform: Wir kommen irgendwo her und gehen irgendwo hin und dazwischen findet das Leben statt. Doch wie es in diesem Zwischenreich nach der Geburt und vor dem Tode zu Begegnungen kommt, wie sie anfangen, wie diese ablaufen, wie sie enden, zeigt uns Jomar respektive der Regisseur in unerwarteten Bildern, in verrückten Szenen, in Anspielungen und Gesten, in Nebenbemerkungen, in Nebensätzen sozusagen.

Der «homo viator» bei Gabriel Marcel

Der französische Existenzphilosoph Gabriel Marcel (1889 bis 1973) hat 1949 in seinem Buch «Homo viator. Philosophie der Hoffnung» den Begriff geprägt, der bei anderen Denkern und Künstlern weiterwirkte. Marcel versuchte, die Entfremdung des Menschen zu überwinden in einer Welt, in der das Haben wichtiger ist als das Sein. Das Haben müsse in der Liebe transzendiert werden, für welche der andere kein Objekt mehr ist, sondern im Dialog und schliesslich in der Begegnung das erfahrbare Gegenüber.

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Marcel Gabriel

Freiheit ist bei ihm nicht autonom, sondern muss durch Liebe, Hoffnung und schöpferische Treue gefüllt werden. Die Verbundenheit mit Gott als dem «absoluten Du» sah der Denker als erstrebenswertes Lebensziel. Auch in seinen Theaterstücken befasste er sich häufig mit der Brüchigkeit der menschlichen Existenz. Seine Denken über Liebe, Hoffnung, Treue, Tod und Unsterblichkeit wurde und wird auch immer wieder von Theologen aufgegriffen.

«L’homme qui marche» bei Rodin und Giacometti

August Rodin (1880 bis 1917) ist der erste Künstler des letzten Jahrhunderts, der das Thema des gehenden Menschen gefunden und variiert hat. Wunderbar die Plastiken, die den Menschen auf die Beine und den Rumpf reduzieren und damit das Gehen als den Inbegriff des Seins definieren. Alberto Giacometti (1901 bis 1966) hat eine Generation später eine grosse Anzahl Werke mit dem gleichen Titel geschaffen. Bei ihm wird einem bewusst, dass dieses Gehen auch heisst, die Leere zu ertragen, ihr Widerstand zu leisten. Ähnlich wie es Gottfried Benn in einem Gedicht formuliert hat: «Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich».

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August Rodin                               Alberto Giacometti

Deutungen suchen im Absurden

Es ist meine Absicht, die Details der Geschichte nicht zu erzählen. Mit den obigen Betrachtung möchte ich jedoch motivieren, die vielen Begegnung Jomar Henriksen – mit seiner Freundin Linnea, seinem Freund Lasse, dem jungen Mädchen Lotte und ihrer Grossmutter, dem jungen, sonderbaren Mann Ulrik, dem gut gelaunten Soldaten einer Panzertruppe, dem Greisen Ailo in der Tracht der Samen und schliesslich seinem kleinen Sohn – selbst zu deuten, sie als ästhetische Chiffren zu nehmen und ihnen Bedeutungen zuzuweisen. Sie kommen keineswegs bedeutungsschwanger daher, sondern verspielt, komisch, humorvoll, witzig und absurd. Dieses Raten, Spintisieren, Phantasieren ist es, was diesem Film gemäss ist. Und das macht Spass, viel Spass, auch ohne all die Hinter-Gedanken, die ich hier zu machen versuchte.

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