Octubre

Im Oktober werden Wunder wahr – so wenigstens in der leisen, etwas skurrilen Komödie der beiden peruanischen Filmregisseure Daniel und Diego Vega.

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Clemente ist Pfandleiher, lebt allein und verleiht Geld an Leute, die nicht viel haben, aber dringend welches brauchen. Dafür bekommt er als kleine oder grosse Sicherheiten Golduhren, Perlenketten und Armbänder. Er hat keine Familie, und wenn er körperliche Nähe sucht, geht er ganz selbstverständlich zu einer Prostituierten. Ökonomische Tauschgeschäfte sind sein Form sozialer Interaktion. Wenn man etwas möchte, muss man dafür bezahlen, und wenn man für etwas bezahlt, hat man ein Recht darauf. Nach diesem Prinzip funktioniert sein Leben. «Octubre» zeigt eine poetische Version der sogenannten freien Marktwirtschaft – mit einem sinnvollen Gegenentwurf. Eines Abends wird diese Ordnung von einem verdächtigen Geräusch gestört. Clemente sieht schon das Haus von Einbrechern bedroht und bewaffnet sich mit einem Küchenmesser. Doch er muss feststellen, dass ihm nichts genommen, sondern etwas gegeben wurde, was er jedoch nicht haben will. Das Wehklagen im Hausflur kommt von einem Baby, das Nahrung und Nähe braucht.

Tauschhandel als Modell für Kommunikation

Sofort entstehen in der Umgebung Mutmassungen, das Findelkind sei aus seinen Besuchen bei seiner Dirne Cajamarquina hervorgegangen. Er aber meint, sie sei wohl die Mutter, er aber nicht der Vater des Babys, weshalb er sich aufmacht, nachdem sie spurlos verschwunden ist, sie zu suchen. Schliesslich wendet er sich an die Behörden, denn er will das zappelnde Bündel möglichst schnell loswerden. Der Beamte schlägt ihm vor, das Kind ins Waisenhaus zu geben oder es als sein Kind zu akzeptieren. Doch er denkt nicht daran und sucht quer durchs Rotlichtmilieu nach der vermuteten Mutter. Doch ihre Kolleginnen wollen weder von Cajamarquina noch vom Baby etwas wissen. Gegen Geld könnte Clemente das Kind in Obhut geben. Das will er nicht. Seine Verzweiflung wächst, bis seine Nachbarin Sofia erscheint und ihm vorläufig hilft. Ihm bleibt weiter aufgetragen, die Nöte des Kindes zumindest notdürftig zu stillen. Er gibt ihm das Fläschchen, übt sich im Schaukeln, und mit dem Kind auf der Schulter werden Geschäfte jetzt gemacht.

Auf der Suche nach einer Mutter

Auch Sofia ist allein, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und versucht immer wieder, vom Pfandleiher Geld zu erhalten. Sie glaubt leidenschaftlich an ein göttliches Wunder, entzündet täglich Kerzen und nimmt an den Prozessionen teil, die mit Gesängen und Tänzen im Oktober durch die Strassen Limas ziehen, um vom «Gott der Wunder» sein Wohlwollen zu erbitten. Den gesellschaftlichen Traum von Mitmenschlichkeit hat sie längst aufgegeben. Doch sie glaubt fest daran, dass eines Tages ein Wunder geschieht und alles sich zum Guten kehrt. Nach langem Hin und Her finden die beiden eine Lösung. Clemente stellt Sofia als bezahlte Babysitterin ein, und sie zieht bei ihm ein. Er führt sie in die Regeln des Geschäftes ein, und Sofia erhofft sich, vergeblich, heimlich etwas Zärtlichkeit in der Einsamkeit der Nächte.

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Die neue Ordnung einer fünfköpfigen Familie

Bald schon beginnt hier eine merkwürdige Art des Familienlebens. Zwischen Sofia und Clemente entsteht in dieser Notgemeinschaft eine scheue Annäherung, ihre bezahlte Aufgabe ist es nun, dem Kind Zuneigung und Nähe zu geben, während er wieder seinen Geschäften nachgehen kann. Sofie holt auch noch Don Fico ins Haus und dieser entführt seine kranke Freundin aus dem Spital und bringt sie ebenfalls mit. Alle Mitglieder dieser Familie sind Gestrandete einer hochgradig ökonomisch reglementierten Welt, in welcher die soziale Ordnung in Egoismus und Rücksichtslosigkeit besteht. Während Don Fico auf der Couch schnarcht und seine Freundin im Rollstuhl döst, legt sich Clemente mit einem schweren Seufzer neben Sofia und das im Schlaf zappelnde Kind. Eine Nähe ist entstanden, mit der Clemente umzugehen noch lernen wird.

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Ein stiller Film, der verschieden gesehen wird.

Die Brüder Diego und Daniele Vega haben diesen Erstlingsfilm gemeinsam produziert, geschrieben und gedreht. Sie freuen sich über die, je nach Kulturkreis, unterschiedliche Wahrnehmung ihres Films. In ihrer Heimat seien Ehescheidungen die Regel und fantasievoll neu zusammengesetzte Familien Normalität, weshalb dort sein Film als ehrliches Abbild seiner sozialen Wirklichkeit verstanden werde, sagen sie. In unseren Breitengraden erscheint er wohl eher als Parabel über die Einsamkeit – mit dem Schluss: Wenn alle Einsamen sich zusammenschliessen, die Einsamkeit überwunden würde. Die Szenen des «Señor de los Milagros» bieten dazu nicht Folklore, sondern einen dramaturgischen Mehrwert. Die Langsamkeit der Handlung, das Minimum an Dialogen, das Fehlen äusseren Action und die magisch verinnerlichten Bilder erzählen eine wunderbare, traurige und dennoch fröhliche Geschichte, die ans Herz geht.

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