Out of Nature
Suchend auf der Flucht: Der Norweger Ole Giæver schildert in seinem neuen Spielfilm die Flucht eines Dreissigjährigen aus dem Alltag in die Natur und zurück: provozierend frech und lustvoll verspielt.
Jedes Wochenende steht Martin, Mitte 30, in seiner norwegischen Kleinstadt vor der Wahl: Party oder Familie? Sein Alltag, seine Familie, sein Job, seine kleinen Abenteuer langweilen ihn. Deshalb entschliesst er sich, an einem Wochenende allein eine Wanderung in die Natur zu machen, um Bilanz zu ziehen über sein Leben. Uns Zuschauende nimmt er mit auf eine schonungslose Nabelschau und teilt uns dabei offen seine ungewöhnlichen Gedanken und ehrlichen Wünsche über sich und seine Mitmenschen mit. «Out of Nature», der zweite Spielfilm, eine Low-Budget-Produktion des norwegischen Regisseurs Ole Giæver, ist das provozierende und besinnliche Portrait eines Mannes, der sich fragt, ob es das nun wirklich schon gewesen ist.
Zu Beginn beobachtet Martin von seinem Büro aus den eintönigen Alltag von Fremden. Dann nimmt er sich selbst ins Visier, was einen Gedankenstrom von Fragen und Antworten über sein Dasein auslöst. Die Reise beginnt im Kopf und setzt sich fort in der Natur. Kurz vor der Abreise befragt er noch schnell seinen kleinen Sohn Karsten über dessen Schulalltag, hat mit seiner Frau Signe in der Stube ein Quickie, bevor er den Rucksack packt, die Familie stumm verlässt und sich aufmacht aufs Land und ins Gebirge. Dabei beginnt er sich schonungslos, aber dennoch humorvoll seinen Ängsten, Träumen, neurotischen Störungen, emotionalen Wünschen und sexuellen Bedürfnissen zu stellen, «bis ich weiss, wer ich bin». Wie funktioniert das eigentlich, das gewöhnliche Leben als Mann, als Partner, als Vater? Er weiss es nicht und fragt deshalb weiter und weiter, obwohl ihn kein konkreter Konflikt quält, sondern eine diffuse, seine Existenz umfassende, frustrierende negative Grundbefindlichkeit, in feinen Anmerkungen und Anspielungen, Bildern und Tönen beschrieben.
Auf dem Weg zu sich
Der ehrliche Film lässt im wahrsten Sinn des Wortes die Hosen runter, wie Martin auch selbst es immer wieder tut. Er zeigt äusserlich einen Mann, vom Regisseur selbst gespielt, der durch Berglandschaften wandert, rennt, joggt und tanzt, und dessen inneren Monologen wir folgen, zuhörend, was er denkt, grübelt, fantasiert, träumt und sinniert. Auf eine Art und Weise, dass wir die Augen und Ohren kaum abwenden können, denn der Film wechselt ständig die Perspektive und überrascht uns mit Neuem. Einmal ist Martin selbst Teil der Landschaft, dann wieder blendet er in seine Vergangenheit und schliesslich landet er in seiner Zukunft. Unser Urteil über ihn fällt nicht gerade positiv aus, im Gegenteil. Der Regisseur hält uns von einer Identifikation mit Martin ab. Weil wir an Martins Gedanken teilhaben, bröckelt bald auch die Fassade des liebevollen Familienvaters und Ehegatten. Denn in Wirklichkeit ist er egoistisch und ichbezogen, hat für die meisten Menschen seiner Umgebung nur Verachtung übrig und beurteil Frauen hauptsächlich nach der Grösse ihres Hinterteils. Das Paar hat sich in den letzten Jahren gehen lassen. «Wir lächeln, als ob alles gut wäre», meint er dazu. Sein Familienleben ist eingeschlafen, so könnte man seine Apathie umschreiben.
Seine Gedanken, roh und ungeschützt formuliert, erregen immer wieder Anstoss, weil sie oft dem ähneln, was in vielen von uns ebenfalls schlummert, wenn der Alltag zerrt, die Mitmenschen nerven, die Langeweile gähnt, die Kräfte schwinden. Wer hat dann nicht schon wie Martin an drastische Schritte gedacht: an Abbruch, Scheidung, Kündigung, Austritt, Verschwinden oder Neustart? Unser Antiheld wird dafür nicht verurteilt, sondern steht vor uns und lädt uns ein, nachzusehen, wie viel von ihm auch uns gehört.
Wenn das Selbstbild die Sicht versperrt
«Out of Nature» begnügt sich nicht mit trendigem Outdoor-Lifestyle und Feel-Good-Exkursionen. Martins politisch inkorrekten Äusserungen sind nicht Selbstzweck. Seine Macho-Attitüde entpuppt sich schnell als Hilflosigkeit, behinderte Kommunikation, tief sitzendes Schuldgefühl. Die prächtige Naturkulisse bietet dem Aussteiger bloss kurzfristig eine neue Sicht der Welt und der Menschen. Denn wie soll ein neues Leben dauerhaft und wirksam funktionieren, wenn sein Selbstbild, das er als Nabelschau zelebriert, die Sicht auf das reale Leben versperrt?
Es ist Giævers Verdienst, dass er uns durch Kameraschwenks, Rückblenden und sporadische Musikeinsätze zum Hinschauen und Denken zwingt. So wird der gedankliche Leerlauf, in dem Martin schwelgt, bewusst gemacht. «Out of Nature» zeigt einen Menschen, der, wenn niemand ihn anschaut und die Traumbilder erlöschen, einsam ist. Die Eindringlichkeit, mit der Martin gezeigt wird, zwingt unsere Blicke immer wieder, in unsere eigenen Spiegel zu schauen: Wer sind wir denn, wenn niemand uns anschaut, wenn wir kein Du haben? Die schnörkellose Machart des Regisseurs verhindert das Abdriften ins Allzu-Optimistische oder ins Pseudo-Philosophische. Trotz gewichtiger Themen, wie dem Sinn des Lebens, wirkt der Film als Ganzes schwerelos und heiter.
Leben mit unendlichen Unmöglichkeiten
Eigentlich sollte es Martin, gemessen an der äusseren Situation, in der er lebt, gut gehen. Doch er scheint ein unterschwelliges Problem zu haben, das ihn quält. Es könnte dasjenige der Generation Y sein, jener Mittdreissiger, die im Frieden aufgewachsen sind, früh das Internet kennengelernt, das Ende des Kalten Krieges erlebt und fast unbegrenzte Reisefreiheiten gewonnen haben. Unser Antiheld lebt in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten, die zu einer Welt der unendlichen Unmöglichkeiten wird. Wenn etwas gut ist, so ist es in dieser Generation nicht gut genug, denn es könnte ja besser sein. Es muss anderswo etwas Besseres geben: eine bessere Frau, einen besseren Job, ein besseres Leben. Die Generation Y verweilt nicht bei dem, was sie hat, sondern sucht ständig Neues und setzt bei der Suche nach dem Besseren das Gute aufs Spiel.
Natürlich ist das Wochenende, das der Film schildert, irgendwann vorbei. Natürlich wird Martin in seine ungeliebte Existenz zurückkehren, zu Frau, Kind und Job. Natürlich wird er nicht den Mut haben, etwas Radikales zu tun. Denn schliesslich gehört er zur Generation mit den unendlichen Möglichkeiten. Doch er ist nicht privilegiert, wählen zu dürfen, sondern verdammt, wählen zu müssen. Gegen Ende des Films gräbt er sich ins Erdreich ein und ringt einen jungen Baum zu Boden, um so, erfolglos, Teil der ewigen Natur zu werden.