Parallel Lives

Kinder des 8. Juni 1964: Im Film-Essay «Parallel Lives» schildert der Schweizer Filmemacher Frank Matter das Leben von vier Menschen, die, wie er, am 8. Juni 1964 in den USA, in China, Südafrika oder Frankreich geboren wurden. Die fünf Geschichten machen Unbekanntes bekannt, bleiben dennoch ein Geheimnis und laden ein, lustvoll und tiefsinnig über das Leben und die Welt zu sinnieren.
Parallel Lives

Eine Aussage der vier Protagonisten als Tenor des ganzen Films auszuwählen, wäre falsch, zu vielfältig und bunt sind ihre Lebensgeschichten. Als fünfte Person steuert der Regisseur seine persönlichen Kommentare bei. Aussagekräftig und erhellend dürften die Antworten allemal sein, wofür uns der Film seine Fragen in Dutzenden von Szenen stellt. Diese sind, z. B. für mich, anregend, herausfordernd, berührend, bedrückend, erheiternd, provozierend, tiefsinnig, verrückt und genial. Doch jeder und jede im Publikum wird die Lebensläufe anders erleben und verstehen. – Nachfolgend die vier, respektive fünf Personen kurz vorgestellt:

 

Die Personen im Film

 Zukiswa Ramncwana
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Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Südafrika, unter dem Regime der Apartheid. Nach dessen Ende von grossen Veränderungen in ihrem sozialen Umfeld betroffen.

Michel Berardi
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Verbrachte seine Kindheit in Paris, rebellierte gegen bürgerliche Konventionen und verfiel dabei immer wieder den Reizen von Drogen, Sex und Rock’n’Roll.

Melissa Hensy
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Hineingeboren in eine amerikanische Soldatenfamilie, sucht sie nach mehreren Umzügen nach Selbstbestimmung und Glück, was ihr auch viele Schwierigkeiten bringt.

Li Pujian
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Kommt in einer chinesischen Provinzstadt zur Welt und erlebt die Schmach der Kulturrevolution an seinem Vater. Nach dem Aufwachsen in Armut wird er selbst Teil des chinesischen Wirtschaftsbooms.

Frank Matter, der Regisseur
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Foto: Adrian Jost

In Sissach geboren, arbeitete er als freischaffender Journalist und Reporter für Schweizer Zeitungen, machte eine Regieassistenz, lebte und arbeitete ab 1993 in New York und ab 2006 wieder in Basel.

Wir Zuschauenden, die die Fragen des Films – wie vor einem Spiegel – beantworten
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Was der Film im Einzelnen bei mir ausgelöst hat, zu vermelden, macht wenig Sinn; denn es sind meine Antworten auf meine Fragen. Deshalb gebe ich Frank Matter das Wort und lasse erst am Schluss meine Laudatio zum Film folgen.

Aus den Anmerkungen des Regisseurs


Vor einigen Jahren hatte ich viele meiner ehemaligen Schulkameradinnen und Schulkameraden an einer Klassenzusammenkunft wieder getroffen. Manche hatte ich seit 1977 nicht mehr gesehen. Fasziniert lauschte ich den Erzählungen. Einige Lebensgeschichten schienen vorbestimmt durch das Umfeld, in denen die Erzählerinnen und Erzähler aufgewachsen waren, andere Schulfreundinnen und Schulfreunde hingegen waren überraschende Wege gegangen. In den folgenden Tagen dachte ich viel über die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Zeit und Ort, Gesellschaft und Individuum, Wahrnehmung und Bewusstsein nach.

Dann nahm langsam eine Idee bei mir Gestalt an: Ich wollte die Geschichten einer Handvoll Menschen erzählen, die am selben Tag wie ich zur Welt gekommen waren, jedoch in anderen Ländern und unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. Meine eigene Geschichte sollte als Folie dienen, durch die ich die Biografien meiner «Zwillinge» betrachte. Die Welt hat sich seit meiner Geburt stark verändert, von der Entkolonisierung Afrikas, über den gesellschaftlichen Umbruch nach dem Mai 68 bis zum Untergang der realsozialistischen Systeme, von der Öffnung der Kapitalmärkte bis zur zunehmenden Akzeptanz von sexuellen Minderheiten. Ich wollte der Frage nachspüren, wie die Veränderungen in der Aussenwelt unser Bewusstsein und die Wahrnehmung formten und wie gleichzeitig Bewusstsein und Wahrnehmung unser Handeln, und so die Epoche, prägten. Was ist mit mir und meinen «Zwillingen» passiert im Spannungsfeld von Befreiung und Entwurzelung, persönlicher Freiheit und Vereinsamung, Emanzipation und Bevormundung, Toleranz und Gleichgültigkeit?

Mit viel Enthusiasmus machte ich mich auf die Suche nach den Kindern des 8. Juni 1964. Schon durch eine einfache Google-Recherche stiess ich auf mehrere bekannte Zeitgenossen, die am selben Tag das Licht der Welt erblickt hatten wie ich, etwa einen Olympia-Mittelstreckenläufer und den Toningenieur von Bob Dylan. Besonders faszinierend fand ich die Kosmonautentochter Yelena Adrianovna Nikolayeva, das allererste Kind, dessen Eltern beide im All gewesen waren. Über Facebook-Inserate und mithilfe von lokalen Recherchen vertiefte ich die Suche. Dabei konzentrierte ich mich vor allem auf Orte, die in meiner eigenen Biografie eine wichtige Rolle gespielt hatten: Südafrika, die USA, Paris und China. Im Lauf der Monate wuchs die Zahl der möglichen Protagonisten auf rund drei Dutzend an. Nachdem ich mich mit vielen von ihnen ausgetauscht und einige persönlich besucht hatte, entschied ich mich für vier von ihnen. Klare Kriterien hatte ich keine; ich liess mich bei der Auswahl durch meine Intuition inspirieren.

In «Parallel Lives» erzählen die Protagonisten aus radikal subjektiver Haltung, wie sie die Zeitgeschichte seit dem Juni 1964 erlebt haben. Der Film ist ein vielschichtiger Bilderbogen, der die Zuschauenden auf eine bewegende Reise mitnimmt und mit den Mitteln des Kinos spannende und verrückte Geschichten erzählt. Natürlich kommen in «Parallel Lives» auch die grossen historischen Trends und die herausragenden Ereignisse vor; manche dieser Geschehnisse haben die Protagonisten am eigenen Leib miterlebt, von anderen haben sie nur am Rande erfahren und von einigen weiteren wiederum gar nichts mitbekommen. Aber auch wenn wir als Individuen in einer ständigen Interaktion mit Zeit und Umwelt stehen, hat letztlich jeder nur sein Leben, seine Erfahrung, seine Erinnerungen, und diese Erinnerungen sind in konstanter Veränderung begriffen, ständig neu geformt durch die Gegenwart. Diese Dialektik, die das menschliche Dasein so fundamental prägt, lotet der Film aus. Dabei bedient er sich einer dynamischen, sich ständig wandelnden, dialektischen Verschränkung von Bild, Ton und Erzählung.

«Parallel Lives» – ein «Grosses Welttheater» des Kinos

Eine persönliche Vorbemerkung: Als ich «Parallel Lives» zum ersten Mal gesehen hatte, konnte ich mit «diesem Chaos», «diesem Tohuwabohu», wie ich es erlebte, nichts anfangen, ich wollte nicht darüber schreiben. Vielleicht ist, so sehe ich es jetzt, auch das ein Ergebnis meiner 81 Jahre, welche mich langsamer machen und hindern, diesem modernen, hektischen und turbulenten Film zu folgen und ihn zu geniessen. Ich schreibe dies, weil solche Erfahrung auch andere mit mir teilen.

Nach der zweiten Vision, zu der mich unter anderem eine Kollegin motiviert hatte, war ich hell begeistert: «Parallel Lives» ist für mich ein «Grosses Welttheater», wie es Calderon, wäre das Kino zu seiner Zeit bereits erfunden gewesen, gemacht hätte. Nachfolgend einige Anmerkungen, weshalb ich den Film liebe:

  • «Parallel Lives» ist ein grossartiges, sinnliches, leidenschaftliches Schau-, Hör- und Denkspiel.
  • Kamera, Ton, Musik und Regie schaffen Nähe, Authentizität und Glaubwürdigkeit.
  • Rhythmus und Cadrage überzeugen und machen die Fülle der Eindrücke verkraftbar.
  • Nicht nur die Ereignisse werden geschildert, sondern auch das Vorher und Nachher.
  • Zusätzlich zu den Sprechenden wird die Umwelt vielfältig gezeigt.
  • Die fünf Storys lassen erahnen, dass die Menschen aller Kulturen ähnlich agieren und reagieren.
  • Die Geschichte lebt vom Werden und Vergehen, vom Kommen und Gehen, vom Panta rhei.
  • Der Film zeigt, wie im Leben alles relativ, Fortschritt zum Beispiel positiv oder negativ ist.
  • Er erhellt, wie die Menschengeschichten in die Weltgeschichte eingebaut ist.
  • Viele Szenen lösten beim Publikum wohl Erinnerungen, Gefühle und Überlegungen aus.
  • Grossartig, wie hier die Geschichten vorwärts und rückwärts, hin und her laufen.


Frank Matter und seinem Team gebührt ein grosser Dank, sie haben uns mit «Parallel lives» etwas Grosses geschenkt.

Regie: Frank Matter, Produktion: 2021, Länge: 139 min, Verleih: cineworx