Rara

Leben in einer Patchworkfamilie: «Rara», der Erstlingsspielfilm der Chilenin Pepa San Martín, handelt von zwei Mädchen, bei denen die Mutter mit einer Frau zusammenlebt. Feinsinniges Porträt einer speziellen Patchworkfamilie, aus dem Blickwinkel einer Zwölfjährigen.
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Die Mädchen Sara und Cata, Mutter Paula und Partnerin Lía

Seit der Trennung ihrer Eltern lebt Sara mit ihrer jüngeren Schwester Cata bei der Mutter, die nicht mit einem Mann, sondern einer Frau, mit Lía, zusammen ist. Der Alltag der Vier unterscheidet sich kaum von andern Familien. Die Frauen sind aufgeschlossen, gebildet, die Mutter ist Anwältin. Eine glückliche Familie der oberen Mittelschicht, mit Haus und Garten. Die getrennten Eltern haben mit den Kindern alles geregelt. Die Mädchen, gesund und aufgeweckt, gehen auf eine Privatschule.

Der einfühlsame Spielfilm «Rara» der Chilenin Pepa San Martín ist inspiriert von einem Justizskandal, der sich in Chile über Jahre hingezogen hat: ein Krieg Mann gegen Frau, Hetero- gegen Homosexuelle, ein Kampf um Kinder und Menschenwürde. Doch er konzentriert sich nicht auf den Gerichtsfall, sondern erzählt seine Geschichte aus der Perspektive der zwölfjährigen Sara. Sie steht kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag, also in der Zeit, in der die Hormone verrückt spielen und die Eltern schwierig werden. Weil die Leistungen in der Schule nachgelassen haben, erkundigt sich der Lehrer, ob sie wegen ihrer «speziellen Situation zu Hause» Probleme habe. Hat sie nicht, wird sich aber plötzlich bewusst, dass das Umfeld mit «dieser Situation» Mühe hat, und fragt sich, ob es nicht besser wäre, ihre Party beim Vater zu feiern. Als sie sich zudem eines Tages nach einem Streit mit der Mutter beim Vater den Frust von der Seele geredet hat, beschliesst dieser, der ja auch nur das Wohlergehen seiner Töchter im Auge hat, zu handeln. In der Überzeugung, dass das Aufwachsen mit zwei Müttern seinen Kindern schadet, beantragt er das Sorgerecht. Und das Gericht entscheidet zu seinen Gunsten. Die Mädchen müssen zu ihm ziehen, obwohl sie dies nie gewünscht haben. Die Mutter ist machtlos.


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Altagsfreuden in der Küche

Neue Lebensformen kennen- und verstehen-lernen

«Rara» erzählt von einer nicht ganz alltäglichen Familie, von denen es wahrscheinlich in Zukunft mehr geben wird: Patchworkfamilien mit Lesben- oder Homopaaren mit Kindern. Selbstverständlich braucht die Gesellschaft zur Integration solch neuer Lebensgemeinschaften Zeit, um sie kennen- und verstehen zu lernen. Doch Veränderungen, inklusive politischer und juristischer Anpassungen, gab und gibt es immer wieder. Die traditionelle Mutter-Vater-Kind-Familie wird wohl noch lange als gesellschaftliche Norm gelten. Doch die Realität der Familienformen wird vielfältiger. Darüber orientiert beispielsweise eine Broschüre des Dachverbands Regenbogenfamilien.

Ähnliche Veränderungen gab es in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals war eine brennende Frage, auf welche die Gesellschaft Antworten suchte, der Schwangerschaftsabbruch, ob und wie Menschen den Anfang des Lebens selbst bestimmen. Seit etwa zehn Jahren stellt sich, abhängig von der Alterung der Gesellschaft, die Frage des Alterssuizids, ob und wie Menschen über das Ende des Lebens entscheiden. Seit einigen Jahren – und damit sind wir bei «Rara» – stellen sich, im Nachgang der Legalisierung und Liberalisierung der Homosexualität, Fragen nach der konkreten Ausgestaltung der Homo-Ehen und der Kinder diesen Partnerschaften.

Auf all diese Fragen gibt es nur beschränkt objektive Aussagen. Vieles bleibt subjektiv, weil es von persönlichen Wertungen, religiösen, ethischen und moralischen Normen abhängt. Die Antworten hat sich also jede und jeder zu geben. Wichtig scheint mir, dass die Gesellschaft diese Fragen in einem breiten öffentlichen Diskurs behandelt. In diesem Sinne ist der Film «Rara» von Pepa San Martín wichtig und notwendig.

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Sara, beginnt, sich Fragen zu stellen

Bio-Filmografie von Pepa San Martín

Die Regisseurin wurde 1974 in Curicó, Chile geboren. Nach einem Schauspielstudium nahm sie an Theaterproduktionen teil und begann Regie zu führen. 2004 zog sie nach Santiago de Chile und fasste als Regieassistentin schnell Fuss in der Filmwelt, hat mittlerweile an über 18 Spielfilmen mitgewirkt und mit den meisten Filmemachern und -macherinnen des neuen chilenischen Kinos gearbeitet. 2011 realisierte sie ihre erste eigene Arbeit, den Kurzfilm «La ducha», mit dem sie an der Berlinale den Kurzfilmpreis gewann. Während des mit dem Preis verbundenen Studienaufenthaltes in Berlin entstand «Gleisdreieck», der am Filmfestival Valdivia mit dem Haupt-Kurzfilmpreis ausgezeichnet wurde. «Rara» ist ihr erster Spielfilm, für den Alicia Scherson das Drehbuch geschrieben hat. Er lief im Generationen-Programm der Berlinale 2016 und erhielt den Grand Prix der Jury. Hier die Begründung:

«Von der ersten Szene an haben wir einen authentischen, sorgfältig konstruierten Einblick in das Leben einer Jugendlichen erhalten, die mit den alltäglichen Problemen des Erwachsenwerdens kämpft. Jede Szene dieses kraftvollen Films lebt von den wohldurchdachten Bewegungen und der Geschichte. Die Charaktere und Beziehungen geben eine moderne Realität wieder, die sowohl die Zeit, in der wir leben, widerspiegelt, als auch unser Konzept von der perfekten Familie hinterfragt. Das Schauspiel, das Drehbuch und vor allem die Regie dieser wunderbaren Erzählung über Loyalität, Verzweiflung, Hoffnung und vollkommene Liebe in all ihren Facetten haben uns sehr ergriffen.»

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Glücklich vereint. Wie lange?

Aus einem Interview mit der Regisseurin

 

Wie bist du auf das Thema des Films gekommen?

Alles beginnt immer damit, dass dir ein Thema am Herzen liegt und du darüber sprechen möchtest. Wir Filmemacher/-innen betreiben doch in erster Linie Kommunikation, wir möchten etwas erzählen. «Rara» ist von einer wahren Begebenheit inspiriert. Vor ein paar Jahren verfolgte ich den Gerichtsfall, in den die Richterin Atala involviert war. Er ist symptomatisch für Chile und wurde von der Presse bewusst flach gehalten. Ich folgte den Nachrichten, jedoch ohne mir richtig bewusst zu sein, wie sehr es mich im Grunde interessierte. Eines Sonntags sass ich mit meiner Familie zusammen. Meine Mutter und mein Bruder kommentierten die Angelegenheit kurz: «Ach, wie schade, sie haben ihnen die Mädchen weggenommen», dann blätterten sie weiter zur nächsten Nachricht. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie enorm Handlungen von Eltern und Erwachsenen das Leben von Kindern erschüttern können und wie wenig Verantwortung wir ihnen gegenüber zeigen.

Du hättest einen Dokumentarfilm daraus machen können.

Ich erzähle von diesem Moment, weil er irgendwie ausschlaggebend war, sich die Dinge von da an zusammenfügten und «Rara» Gestalt anzunehmen begann. Der Film ist aber nicht nur dieser Fall, sondern vieles mehr. Deshalb ist er eine Fiktion und kein Dokumentarfilm. Ich suchte das Gespräch mit getrennt lebenden Eltern, mit gleichgeschlechtlichen Eltern, und traf bei den gleichgeschlechtlichen Paaren auf ungewöhnlich viele Rechtsstreitfälle wegen des Sorgerechts. Es ist in Ordnung, man macht Gesetze, die Homosexuelle respektieren sollen. Mir scheint es wichtig, die Gesetze zu vermenschlichen, ihnen ein Gesicht zu geben.

Der Film enthält eine Forderung. Kann man von einer gewissen Militanz sprechen?

Durchaus. Ich bin lesbisch und mache Filme von meiner Warte aus, also reflektieren sie das, was mich interessiert. Ich weiss nicht, ob der Film eine Forderung beinhaltet, denn er ist kein Pamphlet. Ich möchte das Ganze nur aus einer anderen Sicht zeigen. Ich werde akzeptiert, toleriert, man mag mich, aber in den Augen vieler habe ich ein Problem.

Weshalb hast du die Optik eines Mädchens gewählt, das an der Schwelle zur Pubertät steht?

Als 12-Jährige wird Sara plötzlich gewahr, dass ihre Familie anders ist als die von nebenan. Wenn du jünger bist, merkst du so was nicht, aber als Teenager wirst du dir bewusst, wo du stehst, wie deine Familie ist, wer die einzelnen Mitglieder sind. Im Gegensatz dazu steht die jüngere Schwester, der dies alles noch egal ist, die nicht begreift, weshalb sie nicht sagen kann, dass ihre Mutter eine Partnerin hat. Es geht um die Konstruktion des Menschlichen in der Gesellschaft. Wir müssen uns bewusst werden, was wir unseren Kindern vererben.

Gespräch von Paula Oróstica und Cédric Lépine mit Pepa San Martín

Regie: Pepa San Martín, Produktion: 2016, Länge: 90 min, Verleih: trigon-film