Refugiado

Laura flieht mit ihrem Sohn Matías vor der Gewalt ihres Mannes. Der argentinische Filmregisseur Diego Lerman schildert dies authentisch und symbolstark in «Refugiado».
Refugiado

Häusliche Gewalt nennt man das und weiss, dass sie verbreiteter ist, als gewöhnlich angenommen wird. Matías ist achtjährig, seine Mutter Laura schwanger. Zusammen suchen sie immer wieder neue Orte, wohin sie fliehen können, dass sie für ihren Mann, seinen Vater unerreichbar sind. Diego Lerman erzählt von zwei Flüchtenden in Buenos Aires. Doch die Menschen sind austauschbar wie die südamerikanische Stadt, stehen für andere Frauen an anderen Orten.

Vom Pausenplatz weg bis ins Tigre-Delta

Vergeblich wartet Matías nach Schulschluss in der Garderobe auf seine Mutter. Schliesslich bringt die Lehrerin den Jungen nach Hause. Dort finden sie seine Mutter Laura blutend am Boden, nachdem sie einmal mehr von ihrem Mann Fabián verprügelt worden ist. Im Spital wird sie untersucht. Nach Hause können die beiden nicht. Sie werden in ein Frauenhaus gebracht, wo der Junge sich mit einem gleichaltrigen Mädchen anfreundet. Die Leiterin des Hauses drängt Laura dazu, ihren Mann anzuzeigen und eine Strafverfolgung einzuleiten. Als sie am Gericht aussagen soll, gerät sie in Panik und verlässt das Haus. Aber wohin? Mit Matías zusammen sucht sie ihren alten Arbeitsort auf, wo ihre Kolleginnen Geld sammeln, damit sie vorübergehend in einem Hotel wohnen können. Einen Telefonanruf von Fabián nimmt Matías an, bei welchem der Vater auf den Jungen einredet, bis er ihren Aufenthaltsort erfährt. Als Laura dies realisiert, ergreift sie erneut die Flucht, ohne dass Matías den Grund des neuen Wegzugs verstehen kann. Am nächsten Tag sucht Laura, weil sie denkt, ihr Mann sei bei der Arbeit, ihre Wohnung auf, um das Nötigste zu holen. Doch der Verfolger ist hinter ihr her. Die Flucht geht weiter ...refugiado 05

Mutter auch als Fliehende

Wo gibt es Geborgenheit?

Beeindruckend ist es, wie der Film es schafft, von der Gewalt gegen eine Frau und Mutter zu erzählen, ohne diese Gewalt äusserlich zu zeigen. Die Absenz des Mannes gibt ihm Überzeugungskraft und Einblick in diese spezielle Art von Gewalt. Der Film führt nach innen, indem er auf Äusserlichkeiten verzichtet. Mit seiner Co-Autorin María Meira setzt Diego Lerman die Geschichte dort an, wo die Verzweiflung die Flucht als letzten Ausweg sieht. «Refugiado» widmet sich jenen Frauen, die mitten unter uns leben und zum Fliehen gezwungen werden. Auslösung für den Film war für den Regisseur eine von ihrem Mann malträtierte Frau, die er eines Tages vor seinem Hauseingang gefunden hatte. Er begann zu recherchieren und stiess auf diese besondere Form der Gewalt mitten in unseren Gesellschaft: die Gewalt von Männern an ihren Frauen.

Nahe bringt uns Lerman die Gewalt aus der Sicht des Kindes, spontan und intensiv dargestellt durch Sebastián Molinaro, das vieles erfährt und wahrnimmt, doch nicht wirklich einordnen und verarbeiten kann, was mit seiner Mutter, eindrücklich und exakt gespielt von Julieta Diaz, passiert. Zum Drama mit vielen berührenden Momenten wird die Geschichte durch die schiere Ausweglosigkeit, in welche die beiden versetzt werden. «Refugiado» ist ein spannender Thriller und eine beissende Sozialkritik, bewegend und schmerzhaft zugleich.
Liest man die Story wie einen alltäglichen TV-Krimi, dann entdeckt man vielleicht kriminalistische Unwahrscheinlichkeiten. Doch als solchen lese ich sie nicht. «Refugiado» ist, aus der Sicht eines Kindes erzählt, ein Psychogramm von Menschen, die Gewalt erlitten haben. Vielleicht müsste man den Film, so mein Vorschlag, noch etwas weiterdenken und fragen, woher diese Gewalt der Männer kommt. Dann aber sind wir im Hier und Jetzt und können nicht mehr fliehen vor Antworten, die mehr sind als Ausreden.

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Selbst heimatlos, spendet Laura Geborgenheit

Der Regisseur und sein Film

Geboren wurde Diego Lerman am 24. März 1976, dem Tag des Militärputsches in Argentinien. Nach seinem Studium an der Universität von Buenos Aires und Theaterkursen bei Ricardo Bartis, reist er nach Kuba, um sich an der Filmhochschule auszubilden. 2002 produziert und dreht er als Co-Autor seinen ersten Langspielfilm «Tan derepente», der in Locarno den Silbernen Leoparden erhält. Von Cinéfondation wird er nach Paris eingeladen, wo er das Drehbuch zu seinem zweiten Spielfilm «Mientras tanto» schreibt, der 2006 in Venedig uraufgeführt wird. Davor und dazwischen dreht er Kurzfilme. 2009 gewinnt er mit «La mirada invisible» in Sundance den Preis für den besten lateinamerikanischen Film, der im Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes mit einer Standing Ovation Premiere feiert. Auch «Refugiado» läuft 2014 in der Parallelsektion am Festival von Cannes.

Auf die Frage, ob die eigenen Kinder eine Rolle gespielt hätten, diesen Film zu machen, antwortete Lerman: «Genau in jenem Jahr kam meine Tochter Renata zur Welt, was mich definitiv davon überzeugte, das Thema anzugehen. Ich weiss nicht genau, warum, aber Vater einer kleinen Tochter zu werden, hat mich dazu bewogen, diese Geschichte zu realisieren. Mein Sohn Milo ist mittlerweile etwa so alt wie das Kind im Film, und wenn mich etwas zutiefst bewegt und fasziniert, seit ich Vater bin, dann ist es der unschuldige, reine Blick der Kinder, diesen von den Erwachsenen noch nicht kontaminierten Ort, von dem aus sie die Wirklichkeit betrachten und gestalten. Für mich absolut faszinierend. „Refugiado“ ist also am Schnittpunkt dieser beiden Elemente entstanden. Das dritte Element entdeckte ich erst während der Dreharbeiten, und es bezieht sich auf meine eigene Geschichte, denn in meiner Kindheit war ich selbst einmal auf der Flucht. Ich habe nur vage Erinnerungen an den Moment, da wir mit unseren Eltern Hals über Kopf fliehen und alles zurücklassen mussten: das Haus, meine Spielzeuge. Wir nahmen nur das absolut Notwendigste mit. Meine Eltern wurden damals von der Militärdiktatur gesucht und versteckten sich eine Weile lang an verschiedenen Orten, auch im Tigre-Delta, wo Laura und Matías im Film schliesslich landen. Es war keine bewusste Suche meinerseits, aber als wir drehten, merkte ich plötzlich, dass ich mich damals in einer ähnlichen Situation wie Matías befunden hatten, flüchten, sich verstecken, ohne richtig zu begreifen, welches die wirkliche Gefahr war und wo sie lauerte.»

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Von einem Ort zum anderen

Regie: Diego Lerman, Produktion: 2014, Länge: 93 min, Verleih: trigon-film