So Long, My Son

Unglück und Schuld, Erinnern und Versöhnen: Nach dem Tod ihres einzigen Sohnes bleibt im Film «So Long, My Son» des Chinesen Xiaoshuai Wang den Eltern nur das Erinnern. Ein grossartiges Fresko des Chinas der letzten Jahrzehnte und ein wunderbares Welttheater der Gefühle.
So Long, My Son

Xingxing mit Vater und Mutter

Persönliche Vorbemerkung: Ich habe es verpasst, den Film «So Long, My Son» frühzeitig anzusehen, um ihn dann, nach einer zweiten Visionierung, ausführlich besprechen zu können. Deshalb folgen anschliessend fremde Texte, die sich für den Einstieg eignen. Der dreistündige Film ist so reich an formalen und menschlichen Details, dass er wohl von vielen, wie auch von mir, nicht spontan ausgeschöpft werden kann. Mein Vorschlag: Betrachten Sie den Film wie ein Puzzle, das Ausschnitte der Geschichte Chinas erzählt, und zusätzlich die Geschichte des Ehepaares Liyun und Yaojun, das ihr Kind verliert, und des Paares Yojun und Liyun, dessen Kind am Unglück beteiligt war. Wenn Sie die Hunderten von Einzelteilen, inklusive Zeitsprüngen, nicht ganz verstehen, schlage ich Ihnen vor: Geniessen Sie dieses Meisterwerk emotional, ganzheitlich, mit allen Sinnen: Sequenz um Sequenz, Bild um Bild, Ton um Ton, Wort um Wort – wie ein Gedicht von Rilke.

Als Xingxing mit seinen Schulfreunden bei einem Stausee am Spielen ist und ertrinkt, verändert sich das Leben des Elternpaars für immer. Er war dort mit seinem besten Freund Haohao, der im gleichen Jahr am gleichen Tag geboren ist. Ihre beiden Familien sind seit Jahren befreundet und wohnen und arbeiten am selben Ort in einer nordchinesischen Stadt. Regisseur Wang Xiaoshuai erzählt in seinem preisgekrönten Spielfilm «So Long, My Son» die Geschichte dieser Menschen vor dem Hintergrund tief greifender gesellschaftlicher Umbrüche der letzten Jahrzehnte. Er liefert uns eine grossartige Sozialchronik, die uns an das Ende der Kulturrevolution zurückführt, um eine Reise ins heutige China zu unternehmen und dabei das Aufkommen des chinesischen Kapitalismus zu erleben. Aufgrund der Ein-Kind-Politik, die die chinesischen Behörden verordnet hatten, war Liyun gezwungen, eine Abtreibung vorzunehmen, als sie ein zweites Mal schwanger wurde. Die Operation verlief schlecht, was zur Sterilität der jungen Frau führte. Als danach ihr Bub beim Spielen ertrinkt, beschliesst das Paar, die Industriestadt im Norden zu verlassen und sich in einem kleinen Küstendorf im Süden des Landes niederzulassen, wo sie direkt am Meer eine kleine Reparaturwerkstätte für Schiffsbauteile betreiben und Liyun Fischernetze flickt. Sie können über ein Waisenhaus schliesslich einen Jungen adoptieren, den sie Xingxing, wie ihren verstorbenen Sohn, nennen. Als er im Teenageralter zu rebellieren beginnt, wird ihnen klar, dass sie ihm damit eine eigene Identität verwehren und ihre Liebe nach wie vor ihrem verstorbenen Kind gilt. Ihr Adoptivsohn bricht die Schule ab und verlässt die Eltern.

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Liyun und Yaojun mit Adoptivsohn Liu Sing

Statement des Regisseurs

Seit 1949 waren Aufbau und Entwicklung der Nation eng mit der nationalen Politik und dem Sozialsystem verbunden, die beide drastisch hin und her schwangen. «So Long, My Son» ist ein Zeugnis der Geschichte – er zeigt, wie sich gewöhnliche Chinesen gefühlt haben, als sie erschütternde Veränderungen in Gesellschaft, Familie und ihrer persönlichen Identität erlebten. Um dies im Film zu erreichen, besuche ich die 80er Jahre bis heute. Indem ich die Veränderungen vom Beginn der Wirtschaftsreform bis heute verfolge, möchte ich noch einmal untersuchen, wie das persönliche Leben unter dieser grossen sozialen Leinwand verlaufen ist. Die Familien in der Geschichte dienen als Mikrokosmos der chinesischen Gesellschaft in den letzten 30 Jahren.

Die Familie von Shen Yingming muss sich mit ihrer Schuld abfinden. Indem man sich entscheidet, sich seinen Handlungen zu stellen und über sie nachzudenken, verschafft man sich das wahre Mittel zur Befreiung von seinen Fehlern und dem Schaden, den man anderen zugefügt hat. Nicht nur Einzelpersonen, sondern eine ganze Gesellschaft oder ein Land sollte diese Haltung gegenüber der Vergangenheit und der Geschichte einnehmen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet: «Schau nach vorne und vergiss die Vergangenheit.» In den ersten Tagen der Wirtschaftsreform diente es als Schmiermittel und ermutigte die Öffentlichkeit, alte Werte hinter sich zu lassen und Dampf zu machen, um wirtschaftlichen Wohlstand zu erreichen. Es ist unerlässlich, die Vergangenheit zu überdenken und zu überprüfen, damit Fehler, die wir zuvor gemacht haben, unsere Zukunft nicht gefährden. Konfrontiert mit den schnellen sozialen Gezeiten, sind gutmütige Menschen meistens eher gebrechlich und unbedeutend. Oft können sie nur den Höhen und Tiefen der Gezeiten folgen. Doch wenn eine Tragödie gutmütige Menschen wie die Protagonisten Liyun und Yaojun trifft – wie können sie dann mit ihren Leben weitermachen? Man lebt nur einmal. Doch es kann so lange dauern, bis man vergessen oder Abschied genommen hat. Für meine Figuren hat es ein Leben lang gedauert, bis sie sich verabschiedet haben, nicht nur von ihrem Sohn, sondern auch von ihrer Jugend.»

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Die Eltern der beiden Xingxings

Biografie des Regisseurs Xiaoshuai Wang

Xiaoshuai Wang war in den 1990er Jahren ein Pionier des unabhängigen chinesischen Films und ist einer der wenigen Meister, der seiner Kunst trotz des zügellosen Kommerzialismus im heutigen chinesischen Filmmarkt treu bleibt. Aufgrund des starken persönlichen Stils, der tiefen Menschlichkeit und des engagierten unabhängigen Filmemachens haben Wangs Arbeiten viermal an den Filmfestspielen von Cannes, zweimal an der Berlinale sowie an den Filmfestivals von Venedig und San Sebastian teilgenommen. Vom französischen Kulturminister wurde er für seine künstlerischen Leistungen zum Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Sein Regiedebüt «The Days» wurde in die Sammlung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen. Wang erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2001 den 51. Berlinale Silbernen Bären und den Grossen Preis für «Beijing Bicycle», 2005 den Jury Preis für «Shanghai Dreams» in Cannes und 2008 den Silbernen Bären für das beste Drehbuch für «In Love We Trust». Seine jüngsten Werke «Red Amnesia» von 2014 und «So Long, My Son» von 2019 untersuchen die weitreichenden Folgen der Vergangenheit für die Gegenwart. «So Long, My Son» brachte ihm zwei weitere Silberne Bären für das Schauspielpaar Yong Mei und Wang Jingchun. Am Film Festival von Uruguay erhielt der Film den Audience Award und am Brussels Film Festival den Grand Prix.

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Geborgen in der Grossfamilie

Am Zürich Film Festival liefen zwei Filme, in denen ebenfalls ein Kind stirbt: im Spielfilm «My Zoe» von Julie Delpy und im Dokumentarfilm «Hope Frozen» von Pailin Wedel. In beiden Filmen versuchen die Eltern, den Tod mit wissenschaftlichen Methoden rückgängig zu machen. In «So Long, My Son» von Xiaoshuai Wan wird der Tod als Teil des Lebens akzeptiert, ja gefeiert.

Regie: Xiaoshuai Wang, Produktion: 2019, Länge: 180 min, Verleih: trigon-film