Stürm. Bis wir tot sind oder frei

Ein Ausbrecher, eine Anwältin und ein paar Fragen: Im Kampf gegen das rückständige Rechtssystem der 80er-Jahre findet die idealistische Anwältin Barbara Hug im Ausbrecherkönig Walter Stürm einen Verbündeten. Der Schweizer Regisseur Oliver Rihs stellt uns die beiden im Actionfilm «Stürm. Bis wir tot sind oder frei» vor – was von uns ein paar Antworten abverlangt.
Stürm. Bis wir tot sind oder frei

Walter Stürm (Joel Basman) und Barbare Hug (Marie Leuenberger)

In der Sozialarbeit kennen wir die «hilflosen Helfer». Während langer Zeit befand ich mich beim Betrachten des «Stürm»-Films in einer ähnlichen Situation und versuche nun im Nachhinein, mich langsam zu Deutungen vorzutasten. Vielleicht erleben Sie es ja ähnlich und gehen ebenfalls von Ihrem Erleben aus.


Ein Film voller Chaos ...

Als chaotisch erlebte ich «Stürm. Bis wir tot sind oder frei», wenn ich ehrlich bin, von Anfang an und über weite Strecken. Diverse Geschichten und Fragmente von Geschichten wechseln sich ab, reissen mich hin und her, bescheren mir ein Tohuwabohu. – Einmal ist es die Story von Walter Stürm mit seinen acht Gefängnisausbrüchen und nachfolgenden Verhaftungen. Ich nehme an, dass die meisten Zuschauer*innen den Ausbrecherkönig, wie er betitelt wurde, oberflächlich aus den Medien kennen. Bei mir ist es die Freundschaft mit dem verstorbenen Filmemacher Hans Stürm, dem Bruder von Walter, die mir den Zugang etwas ebnet. Und es ist die Erzählung meines Schwiegervaters, der bei einem Spaziergang Stürm auf der Flucht gesehen hat, dies aber den nachfolgenden Polizisten verschwieg. – Weiter gibt es im Film die Story von Barbara Hug, deren Namen viele wohl schon irgendwo gehört haben. Im Film erhält sie eine dominante Rolle: als Frau zwischen den Fronten, komplex und differenziert, stark und krank zugleich. Aus einer oberflächlich Bekannten wird eine mit vielen Fazetten versehene nähere Bekannte. – Dann kommt im Film das Zürcher Anwaltskollektiv zur Sprache, das 1975 gegründet wurde und noch heute existiert. Vor Kurzem konnte ich selbst eine Anwältin von dort für mich in Anspruch nehmen, was mich rundweg überzeugt hat. In diesem Büro liefen damals die Fäden zusammen für den Kampf gegen die Isolationshaft und generell der damaligen politischen Opposition im Land. – Der Hintergrund, der sich im Plot jedoch immer wieder nach vorne drängt, lässt die 68er- und die 80er-Bewegung aufleben, mit Demos und Polizeieinsätzen, Verhaftungen und einer Drogenszene, die Zürich damals weltweit bekannt machte. Wahrscheinlich haben wir alle diese Zeit auf die eine oder andere Weise, doch wohl aus sicherer Distanz, miterlebt. – Wirr, verrückt, ein Hin und Her, ein Chaos! So mein Urteil. Oder war es ein Vorurteil? Ich beginne ich mich zu fragen: Darf ein Film über eine verrückte Zeit nicht auch verrückt sein? Und wie selbstverständlich stösst mir die Antwort auf: Ja, er darf es!

Stürm Bis wir tot sind oder frei   Szenen   chd   02 Scene Picture
Walter, nach einem Ausbruch und vor der nächsten Inhaftierung

... und chaotischen Beziehungen

Explizit durchgespielt werden Widerspruch und Chaos in der Person von Walter Stürm. Ich unterlasse es hier, all seine Aussagen und Handlungen, seine Witze und Provokationen aufzuzählen, zu beschreiben und zu hinterfragen. Bunter und schillernder geht es kaum, was sich hier zum Sehen, Hören und Interpretieren anbietet. – Komplexer und differenzierter läuft es mit den Ideen und Fantasien, den Meinungen und Argumenten, Äusserungen, Handlungen und den Beziehungen bei Barbara Hug. Im Gegensatz zu ihm ist sie hoch differenziert, gescheit und engagiert. Alles verkompliziert sich jedoch, weil sie Anwältin und Mitglied des Anwaltskollektivs ist. Diese dreidimensionale Dynamik macht den Film zusätzlich turbulent und chaotisch, aber auch reich und informativ. – Stop: Nun bin ich ja bereits in eine positive Würdigung des Films hineingerutscht, die so für mich aber stimmt.
Stürm Bis wir tot sind oder frei   Szenen   chd   03 Scene Picture

Barbara, im Einsatz für Klient*innen

Hinein ins Trauerspiel des Lebens

 

Im letzten Drittel des unterhaltsamen und gleichzeitig herausfordernden Films entwickeln sich die Erzählungen zum berührenden und bewegenden Drama von zwei suchenden und irrenden, hoffenden und verzagenden Menschen, ausgeweitet durch die damalige Politszene, also mit Polizei und Demonstrationen – was nach meiner Meinung geradewegs in die aktuelle Situation unserer Corona-Pandemie hineinführt. Der Schlussteil, für den die vorgängigen Szenen jedoch nötig sind, macht «Stürm. Bis wir tot sind oder frei» gut, wichtig und wertvoll. Jetzt geht es ums Leben und ums Überleben. Und dazu werden bei mir intensive Gefühle geweckt und bohrende Fragen gestellt: Hoffen oder Verzweifeln? Resignation oder Engagement? Fragen wie: Gibt es Möglichkeiten, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen? Oder ist das erfolglos in unserem Justiz-, sprich Wirtschaftssystem? Was ist richtig? Was ist falsch? Ist alles sinnlos, absurd? Gibt es, wie Albert Camus im ersten Satz seines «Sisyphos» schreibt, nur die eine Frage: den Selbstmord? Oder sind eventuell doch kleine, individuelle, nicht grosse, kollektive Formen des Glücks anzustreben? Solche und ähnliche Fragen kann der Film provozieren, solche und ähnliche Gefühle wecken – wenn wir uns hineinnehmen lassen vom dramatischen Flow gegen Schlusses.

In meinen Augen wächst der Film hier über sich hinaus, pendelt zwischen Verzweiflung und Hoffnung und schliesslich Trauer, im Sinn von August Strindbergs «Traumspiel» mit dem abschliessenden Satz «Es ist schade um den Menschen». Oder gibt es vielleicht doch einen andern, einen Mittelweg? Mit einer solchen Antwort verweist mich «Stürm» auf einen Text des revolutionären deutschen Theologen und Pazifisten Dieter Bonhoeffer, der einmal schrieb: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Stürm Bis wir tot sind oder frei   Szenen   chd   10 Scene Picture
Auseinandersetzung, noch und noch im Anwaltskollektiv

Respekt vor dem grossen Einsatz des ganzen Teams

«Stürm. Bis wir tot sind oder frei» ist ein gutes, ein wichtiges, ein wertvolles Werk, für das viele gearbeitet haben. Das ganze Team ist gemeinsam verantwortlich und ihm soll auch gemeinsam gedankt werden für das, was wir jetzt wohl spüren und erleben können: die vielfältigen Botschaften, die aus den fast zwei Stunden Film herausgelesen oder erahnt werden können: Die Gefühle und Gedanken, die Botschaften und Warnungen sind Marie Leuenberger als Barbara und Joel Basman als Walter zu verdanken, er schillernd und kaum fassbar, sie intensiv und mit enormem Körpereinsatz. Beide grossartig! Die Vielfalt der Aussagen zu einer Einheit zu formen, dafür ist der Regisseur Oliver Rihs verantwortlich, mit dem Drehbuch von Dave Tucker, basierend auf den Fakten der Biografie von Reto Kohler, ins Bild gesetzt von Felix von Muralt an der Kamera, Andreas Radtke mit der Montage und mit Musik untermalt von Beat Solèr.

Stürm Bis wir tot sind oder frei   Szenen   chd   15 Scene Picture
Die Politik geht auf die Strasse

Zurück zum Anfang, wo ich fragend, nicht wissend, an den Film herangegangen bin, sehe ich jetzt, nachdem ich ihn immer wieder neu an mich herankommen liess, klarer, was mich bereichert. Ob er nun ein Meisterwerk ist oder nicht, sei dahingestellt. Er hat mich berührt und bewegt, hat mir Fragen gestellt über das Leben und die Welt, und das genügt mir.

Für weitere Informationen verweise ich Sie auf folgende Dokumente, die der Verleih Ascot-Elite publiziert hat:
Biographie Walter Stürm und Barbara Hug
Schweizer Jugendproteste – Zürcher Anwaltskollektiv

Regie: Oliver Rihs, Produktion: 2021, Länge: 118 min, Verleih: Ascot-Elite