Tre Piani

Eine italienische Comedia humana: Nach einem Buch von Eshkol Nevo verbindet Nanni Moretti in «Tre Piani» drei über drei Jahrzehnte dauernde Lebensgeschichten zu einer grossartigen, prallvoll mit Menschlichkeit gefüllten Comedia humana. Ab 3. Februar im Kino
Tre Piani

Nanni Moretti, Regisseur und Darsteller

 

Der Sohn eines Richterpaares verliert angetrunken die Kontrolle über sein Auto, baut einen Unfall und hofft auf die Unterstützung seiner Eltern, um nicht verurteilt zu werden. Die Mutter eines Kleinkindes, deren Mann oft beruflich im Ausland ist, fühlt sich einsam und durch Visionen beunruhigt. Ein Familienvater hegt gegenüber einem älteren Nachbaren wegen dessen ungewöhnlichen Umgangs mit seiner Enkelin Verdacht. Mit diesen Geschichten, die in drei Jahrzehnten mit zahlreichen andern erweitert werden, taucht der Film ein in die emotionalen und moralischen Tiefen und Untiefen des Lebens.

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Vittorio und Dora, mit Sohn Andrea, dem Unfallverursacher (nicht im Bild)

Alle Protagonist:innen leben im selben Haus in einem wohlhabenden Quartier Roms. Während die Männer oft in ihrem Eigensinn wie gefangen wüten, versuchen die Frauen, ihre zerrütteten Leben zu kitten und die verloren geglaubten Liebe wiederzufinden und weiterzuführen. Wie wird sich eine Frau verhalten, deren Mann sie zwingt, zwischen ihm und ihrem Sohn zu wählen? Kann es für ein Kind vielleicht besser sein, mit seinen Eltern zu brechen? Solche und ähnliche Fragen umkreist der Film des italienischen Regisseurs Nanni Moretti, der auf einem Roman des israelischen Autors Eshkol Nevo basiert.

Drei Geschichten ziehen sich über den Zeitraum von dreissig Jahren hin. Dass dabei einem italienischen Erzähler wie Moretti etwas viele Ideen und Bilder zusammenkommen, was uns gelegentlich die Orientierung verlieren und die Namen verwechseln lässt, versteht sich, kann indes gemildert werden, wenn man nicht jedes Detail verstehen und jeden Namen erinnern muss, sondern die Themen und Atmosphären ganzheitlich wahrnimmt und geniesst. Die ausführlichen Bildlegenden sollen der Orientierung dienen.

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Sara und Lucio, mit Tochter Francesca und Sohn Lorenzo, Renato und Giovanna als Babysitter (nicht im Bild)

Statement des Regisseurs Nanni Moretti

 

«Tre Piani» behandelt, wie bereits das Buch «Three Floors Up», universelle Themen wie Schuld, Gerechtigkeit und Verantwortung, die mit Elternsein und in der Paarbeziehung einhergehen. Die zerbrechlichen Charaktere werden von Ängsten bewegt, deren Obsessionen oft mit extremen Handlungen enden. Ihre emotionalen Motivationen und Konflikte sind stets verständlich. Während im Buch die Geschichten auf dem Höhepunkt der Krise enden, war es für mich wichtig, sie im Film bis zum Ende auszuführen, die Konsequenzen der Entscheidungen und deren Auswirkungen im Leben der Protagonist:innen und der ihnen Nahestehenden zu studieren.

Jede Geschichte wurde wie ein eigener Film entwickelt und dann mit den anderen verwoben. Die Tiefe der Themen, die das Buch behandelt, hat es mir nahegelegt, einen einfachen, schnörkellosen Stil zu verwenden, der keine Ablenkung und Abschweifung zulässt. In einer Zeit, in der wir viel darüber reden, was wir unseren Kindern in ökologischer Hinsicht hinterlassen, reden wir wenig darüber, was in ethischer und moralischer Hinsicht. Denn jede Geste, auch jene in der Privatsphäre, hat Konsequenzen für zukünftige Generationen.

Unser Handeln ist das, was wir denen hinterlassen, die nach uns kommen. Diese Geschichte erzählt von unserer Tendenz, ein isoliertes Leben zu führen, uns von einer Gemeinschaft zu distanzieren, auf die wir glauben, verzichten zu können. Doch was mit diesen Charakteren passiert, zeigt uns, wie wichtig uns allen das gemeinsame Bemühen ist, uns als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Der Film ist eine Einladung, sich der Aussenwelt, auf unseren Strassen und in unseren Häusern, zu öffnen. Es liegt an uns, nicht in unseren «Drei Stockwerken» eingesperrt zu bleiben.

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Giorgio und Monica mit Tochter Beatrice, später Sohn Lorenzo, Onkel Roberto (nicht im Bild)

Aus einem Kommentar des Buchautors Eshkol Nevo

 

Das Buch, das dem Film zugrund liegt, wurde nicht als Reaktion auf die Covid-19-Epidemie geschrieben. Auch Nanni Morettis wunderbarer Film wurde gedreht, geschnitten und fertiggestellt, bevor Schlagworte wie «Shutdown», «Social Distancing», «Isolation» und «Quarantaine» Teil unseres Alltags wurden. Und doch, als ich den Film gesehen hatte, konnte ich festzustellen, dass er genau zur richtigen Zeit ins Kino kommt. Nach Monaten, in denen wir zur Distanz gezwungen wurden, in denen wir lange gewaltsam von unseren Eltern und Freunden getrennt waren, erinnert uns «Tre Piani» eindringlich, wie sehr intime Beziehungen Vorteile, aber auch Schwierigkeiten mit sich bringen: bei Paaren, zwischen Eltern und Kindern und mit Nachbaren.

Die eindrückliche Eröffnungsszene mit dem Fahrer, der die Kontrolle über sein Auto verliert und direkt in ein Haus knallt, bildet den Prolog zu allem, was den Protagonisten in dieser Geschichte passieren wird, dazu bestimmt, immer wieder zusammenzustossen, in einzelnen Fällen mit dramatischen, in andern mit erlösenden Folgen, doch für niemand gleichgültig.

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Charlotte und Lucio

Jetzt habe ich «Tre Piani» zweimal gesehen. Beim ersten Mal war ich sehr, vielleicht zu sehr damit beschäftigt, die Spuren des Buches im Film auszugraben. Verständlicherweise sind mir besonders die Änderungen aufgefallen. Und ich habe alles bereut, was in der Adaption verloren gegangen ist. Als ich den Film zum zweiten Mal gesehen hatte, fühlte ich mich freier, konnte ich Gefühle empfinden und mich in den Film einbringen. Nach dem Abspann sagte ich: Sie hatten keine Angst, der Regisseur, der Drehbuchautor und die Schauspieler:innen, sie schauten direkt in die dunkelsten Ecken unserer Seele und beleuchteten sie mit der Zauberlaterne des Kinos: Wie unterscheidet man gesunde elterliche Sorge von krankhafter Angst? Was ist los, wenn eine schwarze Krähe im Wohnzimmer auftaucht und sich weigert zu gehen? Auf solche Fragen gibt der Film keine Antworten. Denn ein Kunstwerk gibt nie Antworten, stellt nur immer neue Fragen.

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Dora, nach Vittorios Tod

Wenn sich alles mit allem verbindet

 

Das kommerzielle Kino wendet seinen Blick im Allgemeinen von den drängenden Fragen, die es zwar selbst aufwirft, ab: zum Leben als Paar, den Beziehungen zu den Kindern, dem Verhalten in der Gemeinschaft. Nevos Roman bestand aus den Bekenntnissen von drei einsamen Sündern, die im selben Gebäude leben, ohne das Leiden der andern zu bemerken; Morettis Film durchbricht deren Einsamkeit und verbindet die Schicksale der Protagonist:innen miteinander, dass es möglich wird, sich gegenseitig zu verletzen, aber sich auch gemeinsam zu heilen, zu hassen und zu vergeben, Angst und Trauer zu ertragen. Dies alles wird mit der Schauspielkunst von Margherita Buy, Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher und weiteren verkörpert und mit einem klugen Drehbuch und sorgfältiger Arbeit der Crew in Szene gesetzt. Ein Kritiker meinte, der Film sei überlastet; zugegeben, die 320 Seiten des Buches erzeugen in einem zweistündigen Film eine geballte Ladung Menschenschicksale. Doch es gibt, nach meiner Meinung, zwei Möglichkeiten, diese zu bewältigen: Entweder nimmt man es nicht so genau mit den Namen der Figuren und konzentriert sich auf die Themen und Emotionen, oder man schaut sich den Film ein zweites Mal an.

«Tre Piani» zeigt eindrücklich, für den einen in dieser, für die andere in jener Szene, dass eigenes Wohlergehen mit dem Wohlergehen der andern verbunden ist. So verdichtet sich der Film, in meinen Augen, zum «Solitaire & Solidaire», womit Albert Camus eine Grundbefindlichkeit des Menschseins einst beschrieben hat. Das dürfte funktionieren, wenn wir nur Offenheit und Mut aufbringen, unsere Lebensgeschichte mit der Filmgeschichten oder die Filmgeschichte mit unserer Lebensgeschichte zu verbinden.

Regie: Nanni Moretti, Produktion: 2020, Länge: 120 min, Verleih: Filmcoopi

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