Turistas
Carla und Joel auf der entscheidenden Fahrt
Schicksale tauchen auf, treffen auf andere und verschwinden. Geht es nicht vielen ähnlich? Bahnhöfe mit ihren Durchreisenden, ihren Touristen erzählen Geschichten, Schicksale. Und diese Geschichten und Schicksale der Reisenden und Touristen lassen Geheimnisse erahnen.
«Turistas», der zweite lange Film der chilenischen Regisseurin Alicia Scherson, stellt Fragen und lässt Anteil nehmen am Leben von Menschen auf der Reise: vom Abschied, auf ihren Wegen, Abwegen und Irrwegen, bis zur Rückkehr. Vom Unbekannten, das bekannt und klar wird, und vom Bekannten, das wieder unbekannt wird und erneut Fragen stellt. In diesem Sinne beginnt der Film denn auch mit verunsichernden, verschwommenen Landschafsbildern. Wir sehen nicht klar, verstehen nicht richtig – genau wie die beiden Hauptprotagonisten.
Rausgeworfen aus der Zweierbeziehung,…
Carla und Joel sind unterwegs in die Ferien. Die Stadt Santiago haben sie hinter sich gelassen, als aus einem belanglosen Geplauder des Paares im Auto plötzlich Streit entsteht. Sie hat eine wichtige Entscheidung getroffen, ohne ihn dazu einbezogen zu haben. Angesichts der bevorstehenden Ferien versuchen die beiden, die Situation zwar zu retten, doch dem Zerwürfnis ist mit einigen versöhnlichen Worten und einer flüchtigen Umarmung nicht beizukommen. Ein Strassenschild warnt «Peligro, zona de hielo» (Achtung Glatteis), und tatsächlich gerät das Paar bei höchst sommerlichen Temperaturen bald auf rutschiges Terrain. Bei der nächsten Gelegenheit lässt Joel Carla am Wegrand stehen und fährt davon.
Als ihr klar wird, dass er nicht zurückkommt, macht sie sich auf die Rückreise. Ihre gemeinsamen Sommerferien haben gerade mal solange gedauert wie der Prolog des Films, nämlich wenige Minuten. Der Hauptteil des Films besteht in der langen Reise der Frau, die, wie ihr Mann, in einer Midlifekrise steckt, zu sich selbst und zu den andern.
In der Einsamkeit allein mit sich.
… auf dem Weg zu sich, zu andern…
Für Carla gilt es zunächst, sich und ihre Bedürfnisse, aber auch neue Menschen und eine Welt um sich herum kennen zu lernen. Kaum in den Urwald, die Natur eingetaucht, trifft sie den norwegischen Rucksacktouristen Ulrik und schlägt ihre Zelte, vorerst mal für eine Nacht, mit ihm im Nationalpark «Las siete tazas» auf. Dort machen die beiden nicht nur mit einer bisher unbekannten Fauna und Flora, sondern auch mit ein paar seltenen menschlichen Paradiesvögeln Bekanntschaft. Sie alle eint die unausgesprochene und ungestillte Sehnsucht nach der Natur, nach den vermeintlich unscheinbaren Dingen der Welt – und schliesslich die Frage nach dem richtigen Leben.
Das Leben neu entdecken und erfahren.
Ulrik will sich Klarheit verschaffen über seine sexuelle Neigung. Orlando, der es mit einem einzigen Lied zu nationaler Bekanntheit gebracht hat und heute lieber den Vögeln beim Singen zuhört, lebt von den Erinnerungen und sinniert über verpasste Gelegenheiten. Zwei Cousinen, die den Lebensmittelladen im Park führen und beide Susana heissen, streiten sich darüber, ob man besser wild und gefährlich oder vernünftig und absehbar liebt. Sie alle leben in einem Naturpark, auf der Suche nach dem Ursprünglichen, inmitten von Tieren und Pflanzen aller Art.
Auch Insekten werden zu einem Teil des Menschenlebens.
Carla, anfangs noch zögerlich, unentschlossen und lustlos wirkend, erholt sich in der üppigen Natur und der illustren Gesellschaft zunehmend und reist schliesslich innerlich wie äusserlich gestärkt nach Santiago zurück. Zu ihrem Ehemann? Das wissen wir nicht – bleibt offen. Die Regisseurin entlässt uns mit einem heiteren Feriengefühl und der verflixten Ahnung, dass wir auch dann Touristinnen und Touristen sind, wenn wir nicht durch den unwegsamen Urwald trampen. Selten wurde im Kino so erfrischend und frei über die Tücken des Lebens sinniert, wie sie nicht nur im mittleren, sondern gerade auch im höheren Alter immer stärker in den Vordergrund drängt, zum Mittelpunkt wird.
Auch eine Spinne in der Heilquelle kann Fragen stellen.
… und zur Natur.
«Ich wollte schon immer einen Film über unsere Verbindung zur Natur gestalten und zeigen, wie schwierig unsere Beziehung zur Natur geworden ist in einem Umfeld, das stark städtisch geprägt ist.» Geboren und aufgewachsen in einer verschmutzten Grossstadt, flüchte Alicia Scherson mit ihrer Protagonistin. Auf der Suche nach Erholung und Ruhe, nach ausgiebigen Spaziergängen, genüsslichem Sonnenbaden inklusive verschönendem Lehmbad, gemütlichem Lagerfeuer und Gesprächen über Gott und die Welt, aber auch auf der Suche nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen. Doch was dort zu finden ist, erweist sich als etwas ganz anderes. Die Natur ist nicht unkompliziert, gerade wenn sie von Städtern gesehen wird. Insekten, Würmer, Vögel in ihrer Vielzahl werden zu Protagonisten, indem sie durch die Linse inspiziert werden, als lägen sie unter dem Mikroskop. Es gibt nichts Simples an einem Wasserfall oder einer Spinne. Auf Augenhöhe mit der neuen Umgebung findet Carla sich selbst.
«Turistas» ist ein Film über diese Notwendigkeit und dieses Vertrauen. Ein Film über verwirrte und unbeholfene Stadtmenschen, die sich im Nationalpark aufhalten und der Natur etwas Bestimmtes abringen möchten, jedoch etwas ganz anderes von ihr bekommen. Sie alle eint die Frage nach dem richtigen Leben. Die Filmfiguren sind Stadtmenschen, die sich eine Auszeit in der Natur nehmen. Durch diesen Rückzug werden ihre Unsicherheiten und Zweifel sichtbar. Dass am Schluss des Filmes wiederum alles unscharf erscheint, zeigt, dass Carla – wie wir mit den andern – noch nicht am Ziel ist, dass der Weg noch weiter zu gehen ist, dass wir weiter Touristen bleiben.
Die Menschenfamilie, denen Carla begegnet.