Vortex

Wenn das Hirn vor dem Herzen zerfällt: In «Vortex» zeigt der in Argentinien geborene, in Frankreich arbeitende Regisseur Gaspar Noé zwei Menschen, die nicht mehr synchron laufen, auch wenn sie ihr gemeinsames Leben scheinbar noch teilen. Der Film pendelt mühelos zwischen Komik und Tragik, immer schonungslos und versöhnlich. Ab 21. April im Kino
Vortex

Der Mann (Dario Argento) und die Frau (Françoise Lebrun)

Eine Frau (Françoise Lebrun) und ein Mann (Dario Argento), beide um die 80, stossen auf der Terrasse ihrer grossen Pariser Wohnung aufeinander an. Sie scheinen glücklich zu sein. Doch ihre ruhigen Herbstjahre werden langsam von einer heimtückischen Krankheit zerrissen, durch die sich die Frau, eine ehemalige Psychoanalytikerin, zunächst in den Strassen, bald auch im eigenen Kopf verliert. Sie ist nicht die einzige Liebe im Leben ihres beschäftigten Mannes, der an einem Buch über Filme und Träume arbeitet, sich gern um sie kümmern würde, würden ihm die Energie und die Liebe noch reichen. Das Ende ihrer Eigenständigkeit ist absehbar. Ihr Sohn (Alex Lutz) und dessen Sohn Kiki konfrontieren sie damit. Doch das eigene Heim voller Bücher und Erinnerungen können sie unmöglich verlassen.

Mit seiner geteilten Leinwand zeigt «Vortex» (Wirbel) gleichzeitig und in Realzeit zwei Leben, die nicht mehr synchron laufen. Damit verpasst das Publikum keine Sekunde der Zeit, in der die Frau und der Mann versuchen, das Alter zu überleben.

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Mutter, Vater und Sohn (Alex Lutz)

Sanfte Annäherungen


Nach der Szene mit dem Paar auf dem Balkon folgt der Vorspann mit den Namen der Hauptakteure, ungewohnt mit Geburtsjahr, wie wir unsern Jahrgang ja auch gelegentlich erwähnen, um uns ins zeitlichen Kontinuum einzubinden: Françoise Lebrun 1944, Dario Argento 1940, Lex Lutz 1978, Gaspar Noé 1964.

In Schwarzweiss folgt Françoise Hardy mit dem Chanson «Mon amie la rose, das uns sanft hinführt zu den Hauptakteuren und dem Werden und Vergehen des Lebens: «Wir sind nicht viel. Und meine Freundin, die Rose, erzählt mir heute Morgen davon. Im Morgenrot geboren, mit Morgentau getauft, blühte ich auf, glücklich und verliebt im Sonnenschein. Verschloss mich in der Nacht und bin alt aufgewacht. Dabei war ich so schön. Ich war die Allerschönste der Blumen in deinem Garten. Wir sind nicht viel. Der Gott, der mich erschuf, liess hängen meinen Kopf, und das fühlt sich an wie fallen. Mein Herz liegt fast schon bloss. Steh mit einem Bein im Grab. Ich bin schon längst nicht mehr. Gestern bewundertest du mich. Zu Staub zerfalle ich morgen für immer. Wir sind nicht viel. Und meine Freundin, die Rose, sie starb heute Morgen. Der Mond hat letzte Nacht über meine Freundin gewacht. Im Traum sah ich sie strahlend und entblösst. Ihre Seele tanzte jenseits der Wolken und lächelte mir zu. Möge glauben, wer es kann, ich brauche Hoffnung. Ohne sie bin ich nichts oder einfach nicht viel, erzählte meine Freundin, die Rose, mir gestern Morgen.»
 
Während die beiden in ihren je verschiedenen Alltag einsteigen, hören wir eine Diskussion von Fachleuten über das Sterben, den Tod und die Rituale der Gesellschaft. Auch hier bringt der Regisseur auf zwei Ebenen, einer visuellen und einer akustischen, Informationen über das Leben alternder Menschen.

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Mutter und Sohn


Das Leben ist eine kurze Party, die bald vergessen sein wird


Gaspar Noé gilt als umstrittener Autor, radikal in meinen Augen. Und das kann provozieren, verunsichern, schmerzen. In «Vortex» zwingt er uns 135 Minuten lang auf zwei Leinwänden, oft in Realzeit, zum Hinschauen und Hinhören.

Die Betroffenheit, die der Film bei mir ausgelöst hat, möchte ich mit Antworten des Regisseurs in einem Interview versachlichen. Die integralen Interviews der am Film «Vortex» Beteiligten liefern Klärungen und Vertiefungen, die über das hinausgehen, was ich hätte sagen können.

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Die Mitglieder der Familie im heftigen Disput


Aus einem Interview mit Gaspar Noé

 
Wie kamen Sie auf die Idee zu «Vortex»?
Ich wollte schon seit einigen Jahren einen Film über ältere Menschen machen. Erst bei meinen Grosseltern, dann bei meiner Mutter habe ich festgestellt, dass das Alter sehr komplexe Überlebensfragen mit sich bringt. Es entstehen überwältigende Situationen, in denen diejenigen, die einen früher am meisten beschützt haben, wieder in ihre Kindheit zurückkehren. So habe ich mir einen Film mit einer sehr einfachen Geschichte vorgestellt: Eine Person, die in einem Zustand des geistigen Verfalls den Gebrauch der Sprache verliert und parallel dazu ihr Enkel, der sie noch nicht beherrscht, als zwei Extreme dieser kurzen Erfahrung, die das menschliche Leben ist.

Es ist Ihr bisher am wenigsten provokanter, am wenigsten gewalttätiger Film.
Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Es ist zwar mein erster Spielfilm für ein grosses Publikum, aber man sagt mir auch, dass es der härteste ist, weil er eine sehr alltägliche Situation beschreibt, mit der die meisten Menschen vertraut sind oder werden. Ich habe schon Filme gemacht, die die Leute erschreckten, erregt oder zum Lachen gebracht haben. Diesmal wollte ich einen Film machen, der sie so zum Weinen bringt, wie ich weine – im Leben wie im Kino. Tränen kommen mit den Membranen der Augenlider in Berührung und haben so eine sehr beruhigende Wirkung. Das macht sie zu einer der angenehmsten Substanzen, die es gibt. Auch ist es nicht das erste Mal, dass ich mit grosser Zuneigung Menschen gefilmt habe, die älter sind als ich,

Es ist auch Ihr radikalster, verzweifeltster Film.
Vielleicht, auf jeden Fall nicht sehr manichäisch. Es ist einfach die Geschichte eines genetisch programmierten Zerfalls, bei dem das ganze Kartenhaus in sich zusammenfällt. In der Synopsis für die Filmfestspiele von Cannes formulierten wir es so: Das Leben ist eine kurze Party, die bald vergessen sein wird.

Haben Sie diesen Film nach Ihrer plötzlichen Hirnblutung geschrieben?
Nein, ganz und gar nicht. Ich hatte über das Thema dieses Films schon lange vorher nachgedacht. Andererseits katapultierte mich mein Schlaganfall, der mir kaum eine Chance liess, lebend und unversehrt herauskommen, auf die dunkle Seite des Mondes. Während ich drei Wochen lang Morphium bekam, dachte ich über meinen Tod und seine Folgen für die Menschen in meiner Umgebung nach, über das Chaos, das ich hinterlassen hätte. Die Gegenstände eines Lebens, die man anderen hinterlässt und die ebenso schnell im Müllwagen verschwinden wie die Erinnerungen, die zusammen mit dem Gehirn verrotten. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich mit diesen beiden Begriffen, die wir Leben und Tod nennen, gelassener umgehe, seit das Schicksal mir etwas freudige, zusätzliche Zeit geschenkt hat.


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Mann und Frau, verschieden krank

Splitscreen, eine Aufnahmetechnik für besondere Aussagen


Gaspar Noé: Wann hatten Sie die Idee für den Splitscreen?
Der Film erzählt eine sehr alltägliche Geschichte; es ist etwas, das Menschen ab 80 Jahren passieren kann, und ihre Kinder müssen damit umgehen. Diese Situationen sind so etwas wie ein individueller Fluch, den die meisten über 50-Jährigen mit sich herumtragen und über den sie sich fast schämen zu sprechen. Für die Form habe ich mir etwas fast Dokumentarisches vorgestellt, ohne geschriebene Dialoge und auf einem einzigen Set, so realistisch wie möglich. Vom ästhetischen Standpunkt gesehen, wollte ich einige Szenen im Splitscreen drehen, um die gemeinsame Einsamkeit dieses Paares zu betonen, aber ich hatte das nicht für die gesamte Dauer des Films geplant. In der ersten Woche hatte ich nur einige Sequenzen mit zwei Kameras gedreht, aber im Schneideraum wurde mir klar, dass ich, wenn eine der Figuren das Bild verlässt und uns mit der anderen allein lässt, unbedingt weitersehen will, was er oder sie zur gleichen Zeit tut. Realität ist die Summe der Wahrnehmungen derer, die sie machen. Der Prozess hat sich dann ab der zweiten Woche des Drehs von selbst ergeben. Es fühlt sich an, als ob wir durch zwei Tunnel gehen, die parallel zueinander laufen, sich aber nie treffen; zwei Charaktere, die durch ihre Lebenswege und das Bild unwiderruflich getrennt sind.

Interviews zum Film «Vortex» mit Gaspar Noé, Françoise Lebrun, Dario Argento und Alex Lutz

Regie: Gaspar Noé, Produktion: 2021, Länge: 135 min, Verleih: Xenixfilm