Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte

Eine mongolische Familie im Clinch: Zwischen einer Mutter, die Arbeit sucht und trinkt, und ihrem Sohn, der studieren will und arbeiten muss, entwickelt sich ein für Ulan Bator beispielhafter Konflikt. Die im gleichen Gebiet lebende Regisseurin Zoljargal Purevdash erzählt in ihrem ersten Spielfilm «Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte» ein klassisches Drama, schlicht und eindrücklich, mit Humor und Hoffnung.
Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte

Die Familie in der Jurte

Ulzii, ein talentierter Jugendlicher aus einem armen Jurteviertel in Ulan Bator, erhofft sich mit einem Wettbewerb ein Stipendium für ein Studium im Ausland; seine Mutter, die kaum lesen kann, verlässt ihn und seine Geschwister, um auf dem Land eine Arbeit zu suchen. Zerrissen von der Notwendigkeit, für die drei Kinder zu sorgen, und dem Wunsch, zu lernen, manövriert sich der Junge in eine schwierige Situation. Soweit der Rahmen für die stille und berührende alltägliche Geschichte, die uns gelegentlich an Yasujiro Ozus «Tokyo monogatari» oder Vittorio De Sicas «Ladri di biciglette» erinnert. «Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte» wird zum berührenden Zeugnis dafür, wie Filme Länder und Kulturen verbinden können, indem Zufälliges und Alltägliches wie Familienzusammenhalt, Erwachsenwerden, Diskriminierung und Migration allgemeinmenschlich und allgemeingültig werden.

In der ersten Annäherung scheint der Film der Mongolin Zoljargal Purevdash irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein, beim zweiten Hinschauen erst spürt man, dass er aber exakt in unsere Zeit passt, denn die Geschichte spielt in einer fernen, fremden Welt, ohne die bei uns üblichen Attraktionen und Sensationen. Weil die Handlung aber Szene um Szene, Bild um Bild, Satz um Satz sorgfältig und verständlich erzählt wird, verzichte ich darauf, sie zu erzählen und gebe der Regisseurin das Wort, nachfolgend das zu sagen, was sie noch sagen möchte (aus der Pressedokumentation).

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Ulzii Im Unterricht

Zoljargal Purevdash zu ihrem Film

«Schon als Kind habe ich gerne Filme geschaut. Ich habe die Kraft des Kinos gespürt und war erstaunt, wie sehr es die Menschen verändern kann. Ich habe mich jedoch nie getraut, meiner Familie zu sagen, dass ich Filmemacherin werden möchte. Denn ich bin die Älteste der Familie, und Kunst wird normalerweise nicht als Zukunftsoption betrachtet. Ich war gut in Mathematik und Physik und habe an wissenschaftlichen Wettbewerben teilgenommen, doch nie eine Medaille gewonnen. Ich fragte nach, wer jeweils die Goldmedaillen gewinnt. Es waren die Schüler von Privatschulen. Also habe ich meine Mutter gebeten, mich auf eine solche gehen zu lassen. Dafür verbrauchte sie ihre Ersparnisse, um meine Studiengebühren zu bezahlen. Ich versprach ihr, dass ich einmal ein Stipendium erhalten würde, denn ich ging auf eine grossartige Schule mit vielen Clubs. Dort trat ich dem Theaterclub bei, verliebte mich in die Kunst und verliess die wissenschaftliche Welt. Damals schloss eine Universität in Tokio einen Vertrag mit meiner Schule ab und vergab zwei Schülern ein Stipendium. Diese Universität hatte auch eine Filmabteilung, also gab ich mein Bestes, um dieses Stipendium zu bekommen, und ich wurde ausgewählt, Filmregie in Japan zu studieren. Dort habe ich 2012 meinen Bachelor gemacht und bin darnach in die Mongolei zurückgekehrt, weil die Geschichten, die ich erzählen möchte, in meinem Land spielen.»

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Wenn Medikamente Kaufen schwierig wird

Kann man sagen, dass Ihr erster Spielfilm in der Kontinuität Ihrer beiden Kurzfilme steht, mit seinem präzisen Bezug zur gesellschaftlichen Realität: «Stairs» (2020) über eine behinderte Person in Ulan Bator, «Yellow Bus» (2022) über eine junge Frau, die in die Hauptstadt kommt, um Arbeit zu suchen? «Fast 60 % der Bewohner von Ulan Bator leben in Jurtenvierteln. Auch ich bin dort aufgewachsen und lebe heute wieder da. Doch es gibt wenige Filme, die aus der Sicht der Bewohner dieses Viertels erzählt werden. Wie andere Städte steht unsere Stadt vor politischen, sozialen und kulturellen Problemen. Doch wie können wir unsere Probleme lösen, wenn wir uns nicht in die Lage der anderen versetzen? Deshalb drehe ich Filme, die in diesem Viertel spielen und die Stimme deren Bewohner wiedergeben, und möchte, dass meine Filme als Brücken dienen für echte Lösungen.

Ulan Bator ist die am stärksten verschmutzte Hauptstadt der Welt, da mehr als 60 % der Bewohner im Jurtenviertel leben, wo es keine energiesparenden Heizungen und umweltschonende Infrastrukturen gibt und weiter Kohle verbrannt wird, um den brutalen Winter von -35°C zu überstehen. Im Jahr 2016 gab es in unserem Land die ersten grossen Proteste gegen die Luftverschmutzung. Doch die sozialen Medien waren voll von hasserfüllten Nachrichten und Kommentaren, und die Demonstranten behandelten die Bewohner meines Viertels hart und uneinsichtig. Ich weiss, dass hier niemand Kohle verbrennt, um die Menschen auf der anderen Seite der Stadt zu vergiften. Was wir einatmen, ist kein Rauch, es ist die Armut. Ich bin überrascht, dass viele Menschen in unserer Stadt das nicht verstehen und einfach wollen, dass wir verschwinden, statt dass sie für Lösungen wie Solarmodule oder eine neue Energieerzeugung protestieren. Deshalb wollte ich einen Film über einen Jugendlichen machen, der im Jurtenviertel lebt und von einer strahlenden Zukunft träumt, jedoch stark von der Beziehung zu seiner Familie und seinem sozialen Umfeld beschlagnahmt wird.»

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Wenn der Schlaf den erschöpften Ulzii überfällt

Hinter dieser starken Familiengeschichte sind die Entscheidungen für den narrativen Aufbau und den Standpunkt klar definiert. «Von Anfang an wollte ich diese Geschichte aus Ulziis Perspektive erzählen. Ich möchte die Geschichte eines Jugendlichen erzählen, der sich für einen Erwachsenen hält und zu viele Dinge auf seinen Schultern trägt, aber eigentlich noch ein Kind ist, das jeden Abend etwas Wärme sucht und von einer strahlenden Zukunft träumt. Es ist die Geschichte einer Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.»

Der Film beginnt im Inneren einer Jurte, was auf ein bestimmtes traditionelles Bild des Landes hinweist, das von den meisten unserer Filme vermittelt wird, bevor er aber zeigt, dass er am Stadtrand handelt. Es ist, als ob man den Zuschauer mit dem erwarteten Klischee von schönen und exotischen Landschaften fangen will, bevor man gleichzeitig die Realität von Menschen oder Familien beschreibt, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt die ländliche Umgebung verlassen. «Nein, das habe ich nie wirklich gedacht. Es ist die Geschichte des ältesten Sohns eines Nomaden, der in die Hauptstadt migriert und gestorben ist. Es wird immer schwieriger, in der Mongolei Nomade zu sein. Diese Realität macht mich traurig und verletzt mich, denn ich liebe mein Land und seine Traditionen. Die Nomaden ziehen, wenn sie gut verdienen, mit ihrer Jurte in die Stadt und bauen Häuser. Also habe ich dargestellt, wie Ulziis Familie eben erst migriert ist und noch kein gutes Land gefunden hat, auf dem sie in der Stadt leben kann.»

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Die Familie in der Jurte

Es ist während einer Autofahrt durch die Stadt, dass wir auf Umweltaktivisten stossen. Man vergisst dies einen Moment lang, doch das Thema taucht wieder auf, wenn der kleine Bruder hustet und von einer Ärztin untersucht wird. Die Einstellung, die die Stadt im Weitwinkel mit ihrem schweren, nebligen Himmel zeigt und im Hintergrund das hustende Kind, lässt uns die Landschaft jetzt anders lesen. «Der stärkste Grund, warum ich seit 2017 für dieses Projekt kämpfe, ist meine Tochter, die diese gefährliche Luft einatmet, und der im Winter die Schwermetalle der Luftverschmutzung in ihr Blut fliessen, wie bei allen Kindern in der Stadt. Die Menschen unternehmen unsinnige Aktivitäten gegen die Luftverschmutzung. Doch was wir einatmen, ist kein Rauch, es ist die Armut unserer Brüder und Schwestern. Wie können wir die Lösung finden, ohne das Problem zu kennen? Während der Dreharbeiten beispielsweise lag der Luftqualitätsindex über 400 (verglichen mit 312 in Delhi und 19 in Bern), was in Ulan Bator normal ist.»

Regie: Zoljargal Purevdash, Produktion: 2023, Länge: 98 min, Verleih: Firsthandfilms