Wer wenn nicht wir
Was geschah eigentlich damals, in den 60er Jahren, während der RAF-Zeit, in Deutschland, als man – wie ich, eben zurück aus den USA – im Flughafen Frankfurt ankam und vor einer Wand mit riesigen Fahndungsfotos von mutmasslichen Terroristen stand? Und wie kam es in der BRD zu diesem Ausnahmezustand? Was war die Vorgeschichten? Der Dokumentarfilmregisseur Andres Veiel untersucht dies in seinem hoch differenzierten und analysierenden Spielfilm.
Der Film basiert auf dem Sachbuch «Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus» von Gerd Koenen. Jenseits abgedroschener 68er-Klischees begibt sich der Film zu den Anfängen und taucht tief ein in die entscheidenden Jahre der Bundesrepublik. Ein Trip in eine leidenschaftliche Zeit, in der alles möglich schien. Ein Schlüsselfilm der neuen deutschen Geschichte, der zudem zeitlose Fragen stellt. Er knüpft nahtlos an der aktuellen neuen Politisierung in Deutschland an. «Diese Stadt muss dem Erdboden gleichgemacht, der Erdboden muss den Wäldern gleichgemacht, alles muss gleichgemacht werden», schreibt Bernward Vesper, einer der Protagonisten, in seinem Buch «Die Reise».
Was geschah damals und davor wirklich?
Deutschland in den frühen 60ern. Noch ist es ruhig. Doch Aufbruch liegt in der Luft. Bernward Vesper, Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper, kommt zum Studium nach Tübingen, wo er wie viele andere die Seminare von Walter Jens besucht. Der Tübinger Gelehrte gehört zur «Gruppe 47», die in der Nachkriegszeit grossen Einfluss auf die Erneuerung der deutschen Literatur hat. Bernward fühlt sich berufen, Dichter zu werden und hackt nachts auf seine Schreibmaschine ein. Der verrotteten Welt will er Sätze entgegen schleudern, um sie aus ihrer Erstarrung zu rütteln. Sein Motto: «Ich schreibe so, wie wenn man mit der Faust der Gesellschaft in die Fresse haut.» Gleichzeitig aber verteidigt er seinen Vater, einen Hitler-Verehrer. Bernward hält seinen Vater für verkannt. Behutsam macht Jens seinen hochbegabten Studenten darauf aufmerksam, dass die schriftstellerischen und moralischen Qualitäten seines Vaters nicht besonders hoch zu veranschlagen sind. Doch Bernward will davon nichts wissen.
Das Land, in dem Bernward lebt, die Bundesrepublik der frühen 60er Jahre, erstickt an der Vergangenheit. Der Krieg ist gerade 15 Jahre vorbei, alte Nazis zurück auf ihren Posten, über Kriegsverbrechen wird nicht gesprochen, die Republik steht stramm zur Demokratie. Die Atmosphäre ist drückend, Damenbesuch nicht erlaubt. Nach kurzer Zeit lernt Bernward in Tübingen zwei junge Frauen kennen: Gudrun Ensslin und deren Freundin Dörte. Zuerst ist er Dörte zugetan. Doch als diese für einige Tage weg ist, kommen sich Gudrun und Bernward näher. Während er ihr aus Hans Henny Jahnns Roman «Das Holzschiff» vorliest, in dem es um eine Dreiecksbeziehung geht, entkleidet sie sich und verführt ihn. Nach Dörtes Rückkehr praktizieren die Drei eine «ménage à trois». Aufbruch liegt in der Luft. Das Dreieck hält nicht lange, Dörte geht. Gudrun und Bernward sind verwandte Seele, sie suchen nach der Wahrheit hinter den Lügen. Es ist der Beginn einer extremen, bedingungslosen, masslosen Liebesgeschichte bis über die Schmerzgrenze hinaus.
Gemeinsam brechen sie auf, um die Welt zu erobern. Fortan teilen sie sich in Tübingen neben Tisch und Bett auch einen Alltag voller Widersprüche. Sie gründen einen Verlag, bringen eine Anthologie gegen den Atomtod heraus und verlegen gleichzeitig die völkischen Werke von Vespers Vater. Sie schwören sich Liebe, doch Vesper taumelt von einer Affäre zur nächsten, während Gudrun weder mit noch ohne ihn leben kann. Sie erlaubt ihm, mit anderen Frauen zu schlafen und sie in die gemeinsame Wohnung zu bringen. Doch sie leidet und fügt sich selbst grösste Schmerzen zu. Um sich stärker zu machen, sagt sie zu Bernward: «Ich will dich so lieben, dass du nicht mehr zu einer anderen Frau gehen musst.» Sie machen einen Neuanfang und gehen 1964 nach West-Berlin. Mit einem Stipendium will sie eine Doktorarbeit über Hans Henny Jahnn schreiben. Ihre These zu Jahnn, vielleicht ein Schlüsselsatz auch für sie selbst: «Bei ihm verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod, durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird.»
Sie werden Teil der linken Bohème und treffen unter anderen auf den Schriftsteller Klaus Roehler und helfen mit, den Kanzlerkandidaten Willy Brandt bei der Bundestagswahl 1965 zu unterstützt. Als die siegreiche CDU/FDP-Koalition 1966 zerbricht, bildet die SPD eine grosse Koalition mit der CDU und wählt das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger zum Kanzler. Enttäuscht und wütend wenden sich Bernward und Gudrun von den Sozialdemokraten ab und der ausserparlamentarischen Opposition zu. Hier kommen sie mit Politaktivisten wie Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann zusammen, die einen symbolischen Bombenanschlag auf die Gedächtniskirche planen, um das «knisternde Vietnamgefühl» nach Europa zu bringen. Gudrun und Bernward werden Teil eines Aufbruchs, der die ganze Welt erfasst hat: Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, Studentenproteste und Black Panther in den USA, Drogen und Rock ’n’ Roll. Das Rad der Geschichte dreht sich, und für einen Moment scheint es, als könnte man seine Richtung ändern: Wer, wenn nicht wir! Wann, wenn nicht jetzt!
Bernward verlegt weiter politische Literatur, besonders interessiert er sich für den Black-Panther-Mastermind Stokely Carmichael. Er fühlt sich dem Kampf der militanten Panther verbunden, verdient am radikalen Schick, schreibt an seinem eigenen Roman und konsumiert Drogen. Gudrun reicht nicht mehr die Wahrheit hinter der Lüge zu erkennen, sie sucht nach der Konsequenz aus der Erkenntnis. Sie will nicht mehr reden, will handeln. Als Gudrun schwanger wird und ein Kind bekommen, scheinen beide noch einmal zueinander zu finden. Doch dann taucht mit Andreas Baader ein anderer Mann auf, konsequenter, radikaler und bedingungsloser als Bernward. Für diesen ist in dieser Konstellation kein Platz mehr, Andreas duldet Gudruns «Kleinfamilienwelt» nicht. Sie muss sich entscheiden. Alle drei werden von Fliehkräften einer Geschichte erfasst, die sie nicht mehr kontrollieren können. Während sich Bernward auf einen langen Drogentrip begibt, katapultieren sich Gudrun und Andreas in den bewaffneten Untergrund. Einen Rückweg gibt es für keinen von ihnen.
Interview mit Regisseur Andres Veiel
«Es musste schon die Weltrevolution sein.» Hat dieses Neue und Überraschende dazu geführt, «Wer wenn nicht wir» zu drehen?
Ja, hinzu kam, dass mein Bild von Gudrun Ensslin, ähnlich wie von Ulrike Meinhof, immer geprägt war vom Bild einer Medea: Sie ist bereit, das Kind zu opfern für eine höher stehende Moral. Nicht im Sinne der Rache, sondern im Sinne: Ich bin verantwortlich für den Zustand dieser Welt, und wenn ich Kinder in diese Welt setze, dann muss ich als erstes dafür sorgen, dass diese Welt es wert ist, in ihr aufzuwachsen.
Was hat Gudrun Ensslin so radikalisiert, dass sie in den Untergrund ging?
Der Blick auf diese Zeit fängt ja immer mit 67/68 an, mit den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch und den Schüssen auf Benno Ohnesorg, dann kommen die Oster-Krawalle, die Schlacht am Tegeler Weg. Und dann hängt man entweder noch Bilder von der Baader-Befreiung oder von den ersten Anschlägen hinten dran. Diese Aneinanderreihung soll die Radikalisierung belegen. Wenn es aber tatsächlich so war, dass die Bilder vom Vietnamkrieg, vom erschossenen Benno Ohnesorg, vom Attentat auf Rudi Dutschke diese Generation so politisierten, warum waren es dann nicht Zehntausende, die in den Untergrund gingen? Warum war es dann nur eine Handvoll? Das heisst, neben den Bildern und Ereignissen dieser Zeit muss es noch etwas anderes gegeben haben, was diese Handvoll in den Untergrund getrieben hat. Um das herauszufinden, muss man früher ansetzen und in den Familienroman der Protagonisten reingehen. Manchmal gab es nur Halbsätze, über die ich gestolpert bin.
«Mein Sohn Andreas hatte den Mut, den mein Mann nie hatte» zum Beispiel?
Die Mutter von Andreas Baader sagte 1972 in einem Interview: «Andreas hatte den Mut, den mein Mann nie hatte». Da dachte ich, aha, da muss ich mich mal mit dem Ehemann beschäftigen. Dann bin ich auf ein weiteres Interview mit ihr gestossen. Darin erzählt sie, dass Andreas ihr von dem Plan berichtet hat, ein Kaufhaus in Frankfurt anzuzünden. Und dann sagt die Mutter eben nicht, was man erwarten würde: «Bist du verrückt?“», sondern sinngemäss: «Hast du die nötige Reife dafür?» Über diesen Satz bin ich gestolpert, denn das heisst ja, dass sie den Anschlag durchaus als eine legitime Möglichkeit sah, zu der man bloss eine gewisse Reife braucht, um die Gefahren und Folgen abzuwägen. Als ich das las, dachte ich: Dieser Satz gehört zum Satz: «Andreas hatte den Mut, den mein Mann nicht hatte.»
Was für ein Mut fehlte dem Vater von Andreas Baader denn?
Es ging um Widerstand gegen die Nazis. Der Vater von Andreas, ein Historiker, war im Februar 1943 auf Fronturlaub zu Hause in München. Die Widerstandsgruppe «Weisse Rose» um Sophie Scholl war gerade nach der Flugblattaktion in der Münchener Universität verhaftet worden. In der Nacht nach der Verhaftung sagte Andreas´ Vater zu seiner Frau: «Die sind abgeräumt, jetzt müssen andere weitermachen.» Da nimmt sie seine Hand, legt sie auf ihren hochschwangeren Bauch und sagt: «Wir sind jetzt eine Familie, das kannst du uns nicht antun.» Doch der Mann geht nicht in den Untergrund, geht wieder an die Front und kratzt irgendwo erbärmlich ab, wahrscheinlich nach Kriegsende. Ein Satz wie «Andreas hatte den Mut, den mein Mann nicht hatte» heisst: Da soll etwas zu Ende geführt werden. Und es ist dann eben nicht so, wie es oft gedeutet wird, dass hier Kinder einen Aufstand gegen faschistoide Eltern machen, sondern dass sie etwas weiterführen.
Als sich Bernward Vesper und Gudrun Ensslin Anfang der 60er in Tübingen treffen, scheint den beiden die Welt offen zu stehen. Sie schaffen es, sich über die strikten Moralvorstellungen hinwegzusetzen. Sie praktizieren sogar eine «ménage à trois». Ist das der Anfang der späteren Revolte?
In zeitgenössischen Filmen wie «Jules und Jim» wurde die «ménage à trois» ja auf die Leinwand gebracht. Der Schriftsteller Hans Henny Jahnn thematisierte die Aufhebung klar definierter Geschlechterrollen, Gewalt und Sexualität. Und damit war klar, dass der Wunsch vorhanden ist, literarische und filmische Vorbilder auch ins eigene Leben zu nehmen. Und all das zu überschreiben, was zu Hause an Moral und Enge propagiert wurde. Während bei den Vespers eine durchgehende moralische Verknöcherung und Verbiesterung herrschte, hatte Gudrun mitbekommen, dass ihr Vater, zwar nach aussen Pfarrer, aber eigentlich Künstler und Lebemann war. Sie hatte sich bei ihm abgekuckt, wie man unter dem Radar fliegt. Darum glaube ich, dass sie die treibende Kraft für die Grenzüberschreitung war. … Ingmar Bergmans Skandalfilm «Das Schweigen» zeigte erstmals in einem öffentlichen Kino einen Sexualakt. Das passierte alles schon in den frühen 60ern. Nicht erst 1968.
Gudrun sagt, nachdem sie sich grosse Schmerzen zugefügt hat: «Ich will dich so lieben, dass du nicht mehr zu einer anderen Frau gehen musst.»
Es ist Selbstzerstörung, ich würde nicht von Selbstmord reden. Wenn ich nach so einem Akt Alkohol trinke, nach draussen gehe und mich hinlege, dann ist das ja nicht so, als würde ich vom Felsen in die Tiefe springen, sondern dann ist es Zufall, was weiter passiert. Ich überlasse es dem Schicksal, ob ich sterbe oder nicht. Diese Szene spielt in einer Grauzone. Bei der Inszenierung halte ich mich darum bewusst zurück. Das habe ich auch bei meinem Dokumentarfilm «Die Überlebenden» so entschieden…Auch bei einem Spielfilm gibt es für mich ein Bilderverbot. Man kann Vorstufen, den Weg dahin und das Ergebnis zeigen. Aber mehr nicht.
Sind die Biografien von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin exemplarisch für die 1960er Jahre?
Wenn man den damaligen politischen Aufbruch begreifen will, dann sind sie tatsächlich exemplarisch, weil sie beide eine ungeheure politische Kraft freisetzen, die Veränderung bedingungslos erreichen will. Bernward geht den Weg über die Kunst, über die er sich neu erfindet. Indem ich mich verändere, sagt er, verändere ich die Welt. Andererseits Gudrun, die sagt, das ist ein Rückzug in bürgerliche Kategorien, man muss die gesellschaftlichen Grundbedingungen verändern, dann verändert sich auch der Einzelne. Beide haben einen radikalen Ansatz, jeder für sich steht für einen politischen Aufbruch dieser Jahre.
Als Spielfilmregisseur, der mit dokumentarischem Material arbeitet, mussten Sie sich also von vielen Erzählungen freimachen und Ihre eigene Erzählung suchen...
... die dann aber eben nicht dramaturgischen Notwendigkeiten folgen. Ich gehe ja in dieses Ursachengestrüpp hinein, versuche einer grösstmöglichen Komplexität zu genügen und trotzdem eine innere Glaubwürdigkeit und Stringenz beizubehalten, damit sich die Erzählung nicht im Dickicht verliert. Diese Verdichtung war eine ständige Gratwanderung.
Worauf haben Sie dabei die Schwerpunkte gelegt?
Ich wollte die politische Aufladung dieses Aufbruchs anders kennenlernen, weg von den bekannten Bilderschleifen und hin zu den persönlichen, politischen, den historischen, biografischen und sozialen Treibsätzen. Was bringt Menschen dazu, dass sie sich mit dieser Welt nicht abfinden? Diese Treibsätze kenne ich auch aus meiner eigenen Biografie. Zum Beispiel 2008 nach der Finanzkrise dachte ich, das ist ein Irrsinn, der hier abläuft. Es muss doch einen Werkzeugkasten geben, diesen Kapitalismus in seinem Getriebe nicht nur zu analysieren, sondern auch an bestimmen Punkten zu sagen: So geht’s nicht weiter! Das sind Fragestellungen, die damals und heute aktuell sind. Einfach zu sagen, damals ist wie heute, und heute ist wie damals. Das trifft es natürlich nicht.
Zusammen mit dem Film «Joschka und Herr Fischer» (www.seniorweb.ch/type/blog/2011-05-20-joschka-und-herr-fischer) liefert das aktuelle Kino mit «Wer wenn nicht wir» ein weiteres Kapitel deutscher Geschichte, welche auch Menschen in der Schweiz, direkt oder indirekt, miterlebt haben – und deshalb interessieren könnte.