Zehn Jahre

Auf das Leben! Vier junge Menschen suchen ihren Platz im Leben. Der Schweizer Filmemacher Matthias von Gunten (71) hat sie während zehn Jahren begleitet: Pascal (17), Lucia (29), Hanna (19) und Victor (28). Wie sie als Individuen reifen und immer mehr zu ihrer Bestimmung finden, bei ihren Träumen, zwischen Erfolgen und Misserfolgen. Der Dokumentarfilm «Zehn Jahre» zeigt uns einfühlsam gefilmte, das Leben umfassende Porträts.
Zehn Jahre

Matthias von Gunten

«Das ist ein 68er», «Jene gehört zur Generation Z», «Er ist ein Flüchtling», «Sie kommt von der Goldküste.» So oder ähnlich tönt es über die Jungen, die wir zu kennen glauben, indem wir sie in Schubladen stecken. So funktioniert es im Alltag. Doch Gespräche, Begegnung, Beziehungen sind nicht möglich, wenn wir in Pauschalen, in Statistiken denken.

Einer, der das anders, besser macht, ist Matthias von Gunten, der 1953 in Basel geborene, heute in Zürich arbeitende Filmemacher. Seine hohe Qualität hat er z. B. mit den folgenden Filmen bewiesen.

In «Thuletuvalu» beschreibt er die drohende Ökokatastrophe: Während in Thule das Eis schmilzt, droht Tuvalu im Meer zu versinken, hier wie dort verändert sich das Leben der Menschen. Im Film «Max Frisch Citoyen» porträtiert er den grossen Schweizer Intellektuellen, der über unser Land hinaus wahrgenommen wurde und in seinem Werk noch weiterlebt.

Beide Filme verlangen Neugier, Geduld und Empathie, was auch im neuen Film «Zehn Jahre» die vier Porträts auszeichnet. Und da Matthias von Gunten ein Filmer ist, der auch seine Arbeit reflektiert, bringe ich hier seine Kommentare zum Film.

Interview mit Matthias von Gunten

Welches war die Motivation für diesen Film?

Am Anfang dieses Projektes war ganz einfach meine Neugier, aus der Warte eines älteren Semesters auf die Jungen zu schauen, die heute in die Gesellschaft hineinwachsen und ihr eigenes Leben anpacken. Noch gut erinnere ich mich an meine eigene aufregende und schwierige Zeit, als ich nach Schule und Studium selbst meinen Weg ins Leben fand. Ich stellte mir einen Film vor, in dem ich über mehrere Jahre und aus nächster Nähe mitverfolge, was junge Leute heute erleben, wenn sie nach der geschützten Phase der Ausbildung im «realen Leben» ihren Platz suchen und welche Erfahrungen sie machen. Wie sie sich verändern und entwickeln, wie sich ihre Persönlichkeiten mehr und mehr entfalten und ihre Lebensläufe sich allmählich abzeichnen und sichtbar wird, wer diese Menschen sind. Ich wollte mit einem anteilnehmenden Blick auf diese grossartige, schwierige und nie ganz fassbare Zeit der Selbstfindung meiner Protagonistinnen und Protagonisten schauen, dem Zuschauer, der Zuschauerin ein eigenes Beobachten ermöglichen und ihm bzw. ihr damit auch Räume für Reflexionen schaffen.

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Pascal

Wie hast Du Deine Protagonistinnen und Protagonisten gefunden?

Ich suchte junge Menschen aus gänzlich unterschiedlichen Erfahrungswelten und hatte dabei nur ein wichtiges Kriterium: Sie sollten einen starken eigenen Lebenswunsch verfolgen. So fand ich den Bäckerlehrling Pascal, die Medizinstudentin Lucia, den späteren Orchesterdirigenten Victor und die angehende Primarlehrerin Hanna, die mich zum einen aufgrund ihrer Berufswünsche interessierten, mit denen sich aber auch eine unkomplizierte, offene und vertrauensvolle Ebene ergab, und die vor allem bereit waren, mich über längere Zeit an ihren wachsenden Lebenserfahrungen teilhaben zu lassen und darüber zu reden.

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Lucia

Waren diese zehn Jahre geplant oder hat sich das so ergeben?

Als Ein-Mann-Team begann ich, ihre Lebensschritte mit der Kamera zu begleiten. Dabei zeigte sich bei allen, dass sie sich auf das Projekt wirklich einliessen, dass sie trotz Kamera ihre Unbefangenheit wahren konnten und immer wieder mit grosser Offenheit ihre jeweiligen Erfahrungen schilderten und reflektierten. Als nach drei Jahren die ursprünglich geplante Drehdauer erreicht war, wollte ich jedoch nicht aufhören: die Vier waren mir ans Herz gewachsen und vor allem war ich neugierig, wie es mit ihnen weitergeht: Endet der Bäcker Pascal wirklich als Berufsoffizier? Was macht Lucia, wenn sie als Psychiaterin unglücklich ist? Wie wird sich Victor in der exponierten und einsamen Rolle als Dirigent zurechtfinden? Und wird Hanna ihre unerschütterlich positive Haltung zum Lehrerberuf und den Kindern auch in der harten Realität des Schulgebens aufrechterhalten können?

Zwar liessen sich im gedrehten Material von einer Drehphase zur nächsten bereits Veränderungen der Protagonist:innen erkennen, doch merkte ich, dass man ihre persönliche Entwicklung über einen längeren Zeitraum noch viel stärker miterleben würde: je mehr Zeit zwischen der ersten und der letzten Aufnahme liegen würde, desto mehr würde sich Lucias Weg abzeichnen und ihr Gesicht sich verändern, desto reifer würde nicht nur Hanna werden, sondern auch ihre Schulkinder sichtbare Fortschritte machen, desto mehr unerwartete Wendungen würde es in Pascals Leben geben und desto näher würde Victor hoffentlich seinem Ziel kommen. Zum Glück waren alle vier ohne weiteres einverstanden, die Dreharbeiten fortzusetzen: ich glaube, für sie war das Projekt zu einer spannenden Möglichkeit des Feedbacks und der Selbstreflexion geworden.

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Hanna

Erkennst du dich in den Geschichten der vier jungen Leute auch ein Stück weit selbst?

Mit dem Entscheid, die Beobachtung über einen langen Zeitraum anzulegen, tat sich für mich eine grössere Dimension des Stoffes auf: die Möglichkeit, mit diesen vier Entwicklungsgeschichten Zeuge eines einschneidenden und teilweise geheimnisvollen Prozesses zu werden. Ein Prozess, der uns alle betrifft, wenn wir mühsam das Handwerk des Lebens erlernen, wenn wir erwachsen und immer ein bisschen älter werden, wenn wir langsam und über viele Hindernisse herausfinden, wer wir sind und wo wir hingehören - und dennoch dieses Leben nie wirklich beherrschen. So soll dieser Film nicht nur von diesen vier Protagonist:innen und ihren wachsenden Lebensgeschichten handeln, sondern – mit ihnen – auch ein Stück weit von uns selbst, von unserer eigenen Suche nach unserem Weg, die nie wirklich endet.

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Victor

Der Film will also auch zur Reflexion einladen?

Wichtig ist mir bei diesem Film auch die Art der Wahrnehmung, die ich beim Zuschauer erreichen möchte, jenes Gefühl, das ich selbst beim Kinoerlebnis am liebsten mag: wenn ich durch das Zuschauen in eigene Gedanken verfallen kann. Dieses eigene, freie Nachdenken möchte ich auch den Zuschauer:innen dieses Films ermöglichen, wenn sie mitverfolgen, wie die vier jungen Menschen ihr Leben anpacken. Darum ist es mir wichtig, dass man dem Film ohne Anstrengung, ohne pädagogischen oder ideologischen Überbau, ohne aufgesetzte Message folgen kann, sondern ganz einfach mit seiner eigenen menschlichen Neugier.

Die Protagonistinnen und Protagonisten des Dokumentarfilms «Zehn Jahre»


Regie: Matthias von Gunten, Produktion: 2024, Länge: 115 min, Verleih: Vinca Film