Zwerge sprengen

Einmal im Jahr trifft sich Familie Schöni im alten Pfarrhausgarten, um gemeinsam Zwerge zu sprengen. Mit dieser Familiensaga, mit der die diesjährigen Solothurner Filmtage eröffnet wurden, schuf der Schweizer Filmemacher Christof Schertenleib eine unterhaltsame und sinnige Comédie humaine.

 

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Hannes (l) und Thomas Schöni, das ungleiche Brüderpaar

Der eine hat die Sicherheit gewählt, der andere das Risiko. Der eine hat seine Arztpraxis nur hundertachtzig Schritte neben dem elterlichen Anwesen eröffnet. Der andere zieht in der Welt herum und handelt mit immer neuen fragwürdigen Unternehmungen. Eines aber verbindet die Brüder Hannes und Thomas Schöni: Einmal im Jahr treffen sie sich mit der ganzen Familie im alten Pfarrhausgarten, um gemeinsam Zwerge zu sprengen und gute Vorsätze zu fassen. Ein Familienritus für eine fragwürdige Harmonie. Das wird auch an diesem letzten Herbstsonntag nicht anders. Bloss hat Hannes eine Fremde mitgebracht. Und diese droht die Eintracht zu stören, indem sie aufdeckt, was alles unter der Oberfläche dieser schönen Familienidylle brodelt.

Eine unheilige heile Pfarrersfamilie

Während der eine von seiner Lebenspartnerin gerade rausgeschmissen worden ist und in Geldnöten steckt, steuert der andere auf eine Ehe- und Midlifecrisis zu. Nachdem die Fremde das Fest erzürnt verlässt, schmieden die Brüder wieder gemeinsame Pläne und wollen wie früher zusammenhalten. Thomas willigt ein, seinem Bruder hunderttausend Franken vorzustrecken. Damit will sich Hannes nicht nur aus der eigenen Not befreien, sondern auch einer gemeinsamen alten Freundin helfen. Das erweist sich aber als gar nicht so einfach, führt zu ungeplanten Konflikten, ungewollter Disharmonie und schliesslich zu mehr als einem unschönen Abgang. Am Schluss kommt es, wie es in der Familie Schöni immer kommt: Ein Jahr später treffen sich alle wieder, um gemeinsam Zwerge zu sprengen.

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Zwerge statt Zwänge und «Knörze» sprengen

Ihr Ritual, jährlich einmal Zwerge zu sprengen, die allseits anerkannte Hausordnung, Negatives unter den Teppich zu kehren, und all dies eingebettet in protestantische Frömmigkeit und heimelige Emmentaler Landschaften, bieten sich geradezu an als Parabel auf den aktuellen Zustand der Schweiz. Es sind die zentralen Szenen des Films. Die beiden Brüder mit ihren Ehe- und Beziehungsproblemen und die «Knörze» der übrigen Familienmitglieder erweisen sich als glaubhaft und authentisch. Das idyllische Dorf Rüegsau im Emmental, dessen sanfte Hügelzüge und das behäbige Pfarrhaus in dessen Mitte, das alles erinnert an alten Schweizerfilme oder das nostalgische Unterhaltungskino der «Die Herbstzeitlosen».

Typisch Schertenleib, typisch Schweizerland

Jahre lang hat Christof Schertenleib die Idee zu dieser Familienstudie mit sich herum getragen. Jetzt passt es gut in sein Gesamtwerk. Ansonsten hat er sich, wenn er nicht mit den eigenen Filmen («Grosse Gefühle», «Liebe Lügen») beschäftigt war, vor allem als Cutter von sechs Filmen des Österreichischen Apokalyptikers Ulrich Seidl einen Namen gemacht. «Zwerge sprengen» wurde jedoch nicht beissend, tragisch und skurril wie Seidls Werke, sondern bleibt immer schön schweizerisch: heiter, schräg und skurril. Während gut zwei Stunden dekliniert Schertenleib menschliche Mauscheleien und konjugiert alltägliche Schummeleien von uns menschlich Allzumenschlichen. Der Film kommt denn auch nicht wie Kafka oder Beckett daher, sondern wie Daumier oder Molière. Viele der verkorksten Szenen gehen einem nahe, gerade weil sie unterkühlt und nicht überdramatisiert sind. Denn so haben wir in den mehr als zwei Stunden Zeit, uns in der einen oder andern Rolle wieder zu erkennen.

Dass der Plot etwas viele Personen umfasst, mag anfänglich verwirren, wenn man jedes Schicksal genau verfolgen will. Nimmt man den Ensemblefilm jedoch als Ganzes, so ist er kleines Schweizer Welttheater, eine helvetische Comédie humaine, die in ihrer Ganzheit Sinn macht. «Zwerge sprengen» ist – ähnlich wie das alljährliche Foto des Bundesrates – eine liebenswürdige, kritische Bestandesaufnahme: das Bild der Nation im Jahre 2009.

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Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm...