70 Jahr’ – graues Haar
Alte Frauen betreten ihren Coiffeursalon, kommen, um sich frisieren zu lassen und sprechen offen über ihr Verhältnis zu Schönheit und Alter. Während die Haare gewaschen, geschnitten oder gefärbt werden, beginnen sie aufzublühen – und der Mythos des Anti-Aging, der die biologische Alterung hinauszuzögern will, gerät ganz schön ins Wanken. Ermöglicht wird dies durch den freundlichen, liebevollen Umgang der Coiffeusen und Coiffeuren mit den Kundinnen, durch ihre oft jahrelangen Beziehungen die Berührungen, die diese erfahren. All dies zusammen schafft Vertrauen und ermöglicht Veränderungen.
Die Berner Filmemacherin Anne-Marie Haller hat, nach einer Idee von Monika Streit Steiger, einen sympathischen und inhaltsreichen halbstündigen Dokumentarfilm über ein aufrichtiges und ungeschminktes Älterwerden, über ein tief innerlich erlebtes Ja zum eigenen Alter geschaffen. Nach «Telling Strings», ihrem letzten Film, in dem sie Menschen in Palästina porträtiert, die sich mit Musik ihre kulturelle Identität zu bewahren versuchen, bleibt sie in «70 Jahr’ – blondes Haar» in einem Umfeld, das den meisten von uns bekannt ist. Nahe an den Frauen, die als Kundinnen bedient werden. Die Kamera beobachtet sie, wenn sie über den Spiegel mit ihrem Coiffeur oder ihrer Coiffeuse oder wenn sie mit der Filmemacherin über ihre noch blühende oder schon welkende Schönheit sprechen. Dabei kommt von den vierzehn Kundinnen eine Vielzahl von Meinungen zusammen. Diese betont bereits die Musik am Filmanfang, wo nicht der erwartete Titelschlager von Udo Jürgens ertönt, der generalisiert und pauschalisiert, sondern besinnliche Klänge von Wieslaw Pipczynski einladen, über das Gesehene und Gehörte nachzudenken oder zu träumen.
Anregungen zum Weiterdenken
Die Kamera von Esther van der Bie und Anna-Marie Haller fängt diese Verschiedenartigkeit der Frauen und die Vielfalt der Aussagen ihrerseits durch eine abwechslungsreiche Cadrage ein. Letztlich geht es den Frauen, jede nach ihrer Persönlichkeit, darum, respektiert zu werden, sich in ihrer Haut wohl zu fühlen, Bewunderung zu ernten. Dass es möglichst häufig dazu kommt, dafür bürgen die Coiffeure und Coiffeusen mit ihrer Arbeit, ihrer Präsenz. Spontan und offen gehen sie auf ihre Kundinnen ein, nehmen sie ernst, achten und wertschätzen sie, bis die Frauen durch deren Nähe und die Berührungen die Bestätigung ihrer Person erleben, sich selbst erfahren, zu ihrem personalen Kern vorstossen und oft herzhaft lachen. Dann, wenn das Bild, das sie von sich wünschen, und das Bild, das sie im Spiegel sehen, zur Deckung kommt.
Bei der Coiffeuse und den Coiffeuren stehen die Fragen ihres Handwerks und des Helfens, Betreuens und Dienens im Vordergrund – Tätigkeiten, die heute von den Professionellen der Sozialen Arbeit leider oft belächelt werden. Doch hier geschieht aufsuchende, unterstützende, fördernde und begleitende Sozialarbeit, für die es weder einen Master noch einen Batchelor braucht, sondern Persönlichkeit und ein offenes Herz. Die Gebenden und Nehmenden setzen sich, von ihren je verschiedenen Positionen aus, mit den Fragen des Alterns, den Falten und Runzeln, den grauen und schütteren Haaren auseinander. Durch die Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit dieser Beziehungen entsteht Vertrauen, das Bestand hat. Was wir in diesem kleinen, unambitionierten Film miterleben, sind Augenblicke, in denen etwas nochmals lebendig wird: still und leise, wirksam und nachhaltig.
Interessant dürfte der Vergleich von «70 Jahr’ – blondes Haar» mit «Der letzte Coiffeur von der Wettsteinbrücke» von Jacqueline Falk und Christian Jamin aus dem Jahre 2004 sein: der neue Film betont die individuelle, psychologische und geragogische Dimension der Coiffure für Frauen, der ältere die nachbarschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung für Männer.
Die 27-minutige DVD kostet für den privaten Gebrauch Fr. 30.-, für Institutionen zum nicht kommerziellen Einsatz Fr. 90.-.
Informationen, Bestellung: www.70jahrgraueshaar.ch