About Dry Grasses
Nuray, Samet, Kenan (v. l.)
Irgendwo im anatolischen Bergland bahnt sich ein Mann seinen Weg durch die schneebedeckte Landschaft. Er kämpft mit der Natur und sich selbst. Von dieser ersten Einstellung an wird klar, dass man in einem Film des wohl bedeutendsten türkischen Regisseurs ist. Das heisst, dass man in den folgenden 197 Minuten misanthropische Männer mit sich selbst hadern sieht und wir mit einem enormen Fluss an Gedanken und Ideen konfrontiert werden, die einen in ihren Bann ziehen.
Kenan, Samet (v. l.)
Die Beteiligten
Ein archetypischer Ceylan-Protagonist steht im Mittelpunkt. Der Lehrer Samet (Deniz Celiloğlu) träumt davon, wegzukommen, umso mehr, als er von seiner Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bağcı) unbeabsichtigt beschuldigt wird. Er lebt mit Kenan (Musab Ekici) in einer Wohngemeinschaft. Beide begegnen Nuray (Merve Dizdar), die an einer anderen Schule unterrichtet und früher politisch aktiv war. In diesem Dreieck lässt Ceylan so ziemlich alles knistern, was Beziehungen hergeben, tut dies in Dialogen, die mit schneidender Präzision geschrieben sind. Nuri Bilge Ceylan, der Gewinner der Palme d’or 2018 für «Winter Sleep», lotet mit «About Dry Grasses», der dieses Jahr die Goldene Palme erhalten hat, brillant die Fallgruben menschlicher Beziehungen aus und zeichnet die Fragilität der Hoffnung. Geschrieben hat er das Buch zusammen mit seiner Frau Ebru, basierend auf Tagebüchern von Akin Akus.
Themen werden angerissen, in langen Gesprächen diese und jene Frage diskutiert, bis nach und nach ein Bild der türkischen Gesellschaft entsteht. Dass man sich im kurdisch dominierten Teil der Türkei befindet, wird am Rande erwähnt. Anfangs deutet ein gepanzertes Fahrzeug an, wie fragil die Situation in der Region ist. Wichtige Hinweise sind im Hintergrund versteckt oder nur beiläufig erwähnt. Den «Professor» kennen alle am Ort, der Tierarzt (Yüksel Aksu) lädt ihn zum Tee ein, der Polizeichef (Onur Gürçay) möchte ihn mit einer Frau verkuppeln. Der Film spielt bis gegen Schluss im Winter; der Titel «Über trockene Gräser» verweist auf sein Ende im Sommer. Es mag mit der Zeit zu tun haben, die Ceylan sich in seinen Filmen nimmt und uns beim Schauen schenkt, aber man ist vom ersten bis zum letzten Bild von ihr umfangen, als wäre sie Teil unseres Lebens.
Sevim, ungewollt im Mittelpunkt
Ein grosser Leerlauf
Nachdem bei einer Kontrolle der Schultornister der Kinder unerlaubte Dinge wie ein Spiegel, ein Sackmesser, ein Liebesbrief gefunden werden, beginnt eine Razzia, hektisch, doch kopflos. Samet und Kenan werden zum Schuldirektor zitiert. Alle diskutieren darüber, bis durchsickert, dass man die Akte verschwinden lasse und es für Lehrer und Schüler keine Konsequenzen habe. Wer in dieser Beschreibung einer gesellschaftlichen Situation an Kafka denkt, liegt nicht falsch. Bei Ceylan geht es immer um mehr als eine vordergründige Story, sondern um eine Botschaft, in vielen Fällen ein Gleichnis.
Drei Individuen mit ihrem persönlichen Empfinden stehen im Zentrum. Die Summe der Einzelbeobachtungen erlaubt dem Regisseur einen Kommentar zur türkischen Realität. Aus den Unterhaltungen lassen sich Schlüsse über Arbeitslosigkeit ziehen und dass die junge ländliche Generation kaum Zukunftsperspektiven hat. Auch die Situation der Kurden, die sich in einem bewaffneten und kulturellen Konflikt befinden, kommt zur Sprache.
Nuray, Samet, Kenan (v. l.)
Diskurs über Engagement und Resignation
Die intensivsten Szenen des Films spielen sich zwischen Samet und Nuray ab. Wilde, emotional und intellektuell geladene Dialoge über den Sinn des Lebens und das Leben in dieser Welt entwickeln sich und eskalieren. Nuray ist politisch aktiv, Samet resigniert. Die komplexe und eigenwillige Frauenfigur bildet das Gegengewicht zu der im ganzen Film dominierende Männerperspektive. Nuray zu ihm: «Wer sich beschweren kann, kann auch handeln und etwas verändern, dir fällt etwas auf und du beschwerst dich darüber, du solltest handeln, tust es aber nicht.» Samets Antwort: «Meine Pflicht ist getan und jetzt gehe ich.» Dann Nuray: «Samet, was für ein Mensch bist du?»
Bei diesem Gespräch kann sich wohl niemand ausklinken. Es gibt nur das Ja oder das Nein. Mit dieser Radikalität trifft der Film hier und jetzt auch uns: Angesichts der Ausweglosigkeit des sich ausweitenden Krieges im Nahen Osten; angesichts der Ausweglosigkeit des Ukraine-Krieges; angesichts der mit Sicherheit nahenden Umweltkatastrophe. Nichts davon erwähnt der Film, und doch ist alles mitgemeint! Dass Nuray im Krieg ein Bein verloren hat und sich dennoch weiter engagiert, macht ihr Ja glaubwürdig und lässt im Hintergrund Fragen nach den Werten aufscheinen.
Bei Ceylan darf man keine Spannung im gängigen Sinn erwarten, keine Zuspitzung, keine Auflösung und schon gar kein Happy End. Stattdessen handelt auch sein neunten Film über zerbrochene Menschen, zerbrechende Gesellschaften und unseren Antworten darauf.
Auf den ersten Blick mag Samet sympathisch und umgänglich wirken, immerhin inszeniert er sich seinen Schülern gegenüber als cooler Typ aus der Stadt, der genauso wenig Bock auf die verkrusteten Kleinstadtregeln hat wie sie. Doch nach und nach erweist er sich als echter Menschenhasser, der weder Kollegen noch Mitbewohner verschont, noch wirkliche Sympathie für seine kurdischen Schülerinnen und Schüler hat: «Ihr werdet euer Leben damit verbringen, Kartoffeln und Zuckerrüben zu pflanzen!», schnauzt er sie an, in dem er seine joviale Fassade fallenlässt. Und dennoch ist dieser Mann zutiefst menschlich. Dass Nuri Bilge Ceylan drei Stunden lang Samet und die Nebenfiguren beobachtet und beschreibt, zeigt uns seine humanistische Haltung, seine Liebe zu den Menschen.
Wesentlich sympathischer ist sein weiblicher Gegenpart Nuray, eine interessante, vielschichtige und feministisch engagierte Frau, die heimliche Hauptfigur des Films: ein deutlicher Hinweis, wer die Welt regiert und wer sie regieren sollte. Auch Merve Dizdar wurde für ihre Performance von Nuray in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet.
Sommer bei Nemrut
Eine Begegnung, die nie stattgefunden hat
Eine Stärke der Dialoge von Ceylan ist die perfekte Mischung aus banalem Palaver und tiefgründig-philosophischem Diskurs, was sie authentisch und herausfordernd macht. Am Schluss des Films, im Sommer, sinniert Samet, mit leiser Musik untermalt, über die Begegnung mit seiner Schülerin Sevim, die nie wirklich stattgefunden hat, lediglich in seiner Fantasie weiterlebt.
Samet steigt über «das vertrocknete Gras», weil das Wasser fehlt, ohne jemandem zu begegnen, den Berg hinauf – ähnlich wie damals eine Begegnung mit dem Mädchen nicht möglich war, weil die Nähe fehlte. Im Rückblick ahnt er, was er damals bei sich nicht finden konnte und deshalb bei ihr suchte, «eine Art Energie, ein Hauch von Transzendenz». Geblieben sind Einsamkeit und sein Wunsch, «ich möchte mich gerne mit deinen Augen sehen.» Doch auch das bleibt Wunschtraum. «So ist das Leben», antwortet Samet bei den Götterstatuen von Nemrut. «So ist das Leben» antwortet Nuri Bilge Ceylan mit dem ganzen Film. Und wer bei seinem Gang auf den Berg den Sisyphos der Griechen gesehen hat, liegt wohl richtig, auch wenn er den «lachenden Sisyphos» von Camus nicht finden kann.
Nachbemerkung von Nuri Bilge Ceylan
Seit ich im Alter von 19 Jahren «Schuld und Sühne» gelesen habe, hat sich mein Leben verändert. Ich reflektiere über meine Figuren durch das Prisma dieser Literatur. Doch es ist ein anderes Land mit einer anderen Kultur, jedes Land hat seine eigene Kultur, doch wir alle haben unterschiedliche Persönlichkeiten. Was sich aber weder mit der Zeit noch mit der Kultur ändert, sind die Seelen, die überall ähnlich sind. Das ist es, was ich erforschen, sehen und verstehen möchte.»