Winter Sleep

Mann, o Mensch! In den Bergen Kappadokiens muss sich der alternde Aydin im Film «Winter Sleep» von Nuri Bilge Ceylan von seiner Frau und seiner Schwester bittere Wahrheiten anhören.
Winter Sleep

Die kalte Landschaft Kappadokiens

Er verwaltet die geerbten Güter der Familie und will ein Buch schreiben, der Hoteldirektor und Schriftsteller Aydin. Draussen bedeckt der Schnee das Land, es wird Winter, es beginnt ein Winterschlaf. Drinnen brechen nach langen unverbindlichen Alltäglichkeiten seine Frau Nihȃl und seine Schwester Neclȃ ihr Schweigen und konfrontieren den Ehemann und Bruder, der sie gnadenlos beherrscht, mit bitteren Wahrheiten.
Der türkische Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan seziert die Selbstgefälligkeit eines Mannes vor unseren Augen so bravourös, dass die 196 Filmminuten zu einem packenden und aufwühlenden, gelegentlich schmerzlichen Drama werden, dessen Sog man sich kaum entziehen kann. «Winter Sleep» bietet ein Kinoerlebnis der Sonderklasse.

Ein selbstverliebter, einsamer Mann …

Die Menschen dieser Region graben sich förmlich in die Erde ein, in Häuser, die in den Fels gebaut sind. Hierhin hat sich der alternde Schauspieler Aydin (türkisch: der Intellektuelle) verkrochen, um Abstand zu nehmen von der Welt, um Ruhe zu finden, um eine Geschichte des türkischen Theaters zu schreiben. Fünfundzwanzig Jahre lang war er Schauspieler, hat er Rollen anderer Menschen gespielt und dabei verlernt, seine eigene Rolle zu spielen, sein eigenes Leben zu leben. Jetzt schreibt er schöngeistige Kolumnen für ein Provinzblatt, mit denen er die Welt kritisiert und zu verbessern versucht. Mit den Menschen um sich, vor allem den beiden Frauen, geht er selbstgefällig und herzlos um. Draussen und drin in einen schwarzen Mantel gehüllt, schottet er sich ab. Erst allmählich zeigt es sich, dass Aydin Probleme hat, die er sich jedoch nicht eingesteht. Im Laufe der Handlung wird er zum selbstgefälligen, brutalen Zyniker, der die andern klein zu halten versucht, um selbst gross zu erscheinen, der skrupellos demütigt, sobald er seine Stellung als Patriarch gefährdet sieht.

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Aydin im Vordergrund, seine Schwester im Hintergrund

… zwei subtil unterdrückte Frauen …

Seine Schwester Neclȃ nimmt Aydin nach ihrer Scheidung zwar bei sich auf, doch wirklich zuhören will er ihr nicht, bis sie eines Tages beginnt, ihm seelenruhig, doch bestimmt und hartnäckig die Leviten zu lesen. Seine bildhübsche Frau Nihȃl ist eine Generation jünger und bekommt in der Höhle des Alten kaum mehr Luft zum Atmen, leidet unter Langeweile, Leere und Angst neben dem dominierenden Mann, der ihr alles wegnimmt, was ihr Leben ausmacht, und dazu überheblich lacht. Wagt sie endlich den Schritt nach aussen, übernimmt sie eine Aufgabe, die ihr einen neuen Lebenssinn verspricht, wird sie von ihm verhöhnt und verlacht.

Die Innenaufnahmen des bis ins kleinste Detail austarierten Films, häufig Plansequenzen, sind mehrheitlich in Orange-Braun gehalten, Farben, die eigentlich Wärme ausstrahlen sollten. Doch dieser Widerspruch zum Erwarteten führt gerade zur Doppelbödigkeit dieser filmischen Psychogramme: In einer ersten Annäherung scheint alles gewöhnlich, alltäglich, normal, den Normen entsprechend. In einer zweiten erst drückt die Verlogenheit und Unmenschliches an die Oberfläche. Die Aussenaufnahmen, die die Aussenwelt beschreiben, sind im Gegensatz dazu durchwegs in frostige, kalte Blautöne getaucht, das symbolisierend, was hier in Wirklichkeit abläuft.

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Nihȃl, die einsame Frau des Hausherrn

… und die Menschen rundherum

Draussen im Land leben vom mächtigen Besitzer und Landesfürsten abhängige Menschen. Beispielsweise ein armseliger Schuldner, bei dem Aydin durch seinen Hausmeister hartnäckig den Mietzins eintreiben lässt. Unter dem Mantel erniedrigender Servilität läuft vorerst auch hier alles unterdrückt verhalten ab, entlädt sich dann aber höchst aggressiv und explosiv. Auch dies wie unter dem Schnee schlafend.
Die Art und Weise, wie er, der Besitzer des Hotels «Othello» (!), und sie, seine Frau, mit dem sozialen Elend ihres Umfeldes umgehen, ist zwiespältig, widersprüchlich, trennt sie. Aydin spendet da und dort mal grössere Summen, lässt damit die soziale Not und das Leid der Menschen nicht an sich heran. Nihȃl hingegen beginnt, sich mit andern zusammen für andere zu engagieren, ohne Wissen ihres Mannes, was ihr endlich wieder Selbstwert gibt, bei ihrem Mann jedoch zu harten Konfrontationen führt. Hinter der Frage des sozialen Handelns wird intensiv und grundsätzlich darüber diskutiert, ob der Mensch das Böse in der Welt überhaupt aufhalten kann und soll.

Schicht um Schicht seiner Identität abstreifend

Nachdem Aydin sich in die Erdhöhle einer Architektur, die es seit Jahrtausenden gibt, zurückgezogen hat, wird ihm von den zwei Frauen Schicht um Schicht seiner Identität, seiner zu Eis erstarrten Person abgezogen. Sobald die üblichen Floskeln und alltäglichen Nettigkeiten ihrer Gespräche nicht mehr taugen, erlebt er sich als nackt und einsam, selbst mit andern zusammen: gemeinsam einsam.

Allmählich wird auch offenbar, dass Aydin feige ist. Er entzieht sich, trotz schöner Worte und leerer Gesten, jeder zwischenmenschlichen Begegnung und damit der Verantwortung dem Nächsten und der Nächsten gegenüber. – Vielleicht trifft der Film damit auch uns Schreibende, die wir zu jedem und allem kluge Antworten zu haben glauben. Der Hausherr lebt mit den zwei Frauen zusammen, bis er es, angesichts der gespürten und schliesslich erkannten Wahrheit nicht mehr aushält und geht. Doch dann dreht sich die Geschichte nochmals. Er hinterlässt einen Brief: «Ich bin nicht gegangen. Ich konnte nicht. Ob ich alt geworden oder durchgedreht bin, oder ob ich ein anderer Mann geworden bin, denke, was du willst. Ich weiss es nicht. Aber der neue Mann in mir lässt mich nicht gehen.»

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Die Landschaft, in die hinein Aydin abreisen will.

Ein filmisches Meisterwerk

Nuri Bilge Ceylan versteht es wunderbar, zusammen mit seiner Frau Ebru Ceylan, die selbst Filmemacherin ist, das Unsichtbare in «Winter Sleep» präzise in klugen Bildern sichtbar zu machen. Zusammen mit ihr schrieb er das Drehbuch, das mit seiner Dramaturgie die Zuschauer gefangen nimmt. Der Gewinner der Goldenen Palme und des Fipresci-Preises des diesjährigen Filmfestivals von Cannes verbindet im Film grandiose Bilder archaischer Landschaften mit einem Kammerspiel intimer Fragen über Liebe und Macht, Gesellschaft und Moral. «Ein intelligentes und raffiniertes Meisterwerk, ein unglaublicher Rhythmus, der dich nach und nach nach innen trägt», begründete Jane Campion, die Jurypräsidentin, ihren Entscheid.

 

Regie: Nuri Bilge Ceylan
Produktionsjahr: 2014
Länge: 196 min
Verleih: trigon-film