Aftersun

Eine Vater-Tochter-Beziehung: Sophie wird von ihrem Vater Calum zum Sommerurlaub in der Türkei eingeladen. Sorglos verbringen die beiden ihre Tage, bis allmählich offenbar wird, dass die Trennung des Elternpaares daheim bereits vollzogen ist. Die schottische Regisseurin Charlotte Wells hat mit ihrem autobiografischen Debütfilm «Aftersun» dazu ein filmisches Meisterwerk mit menschlichen Werten geschaffen. Ab 23. Februar im Kino
Aftersun

Tochter Sophie und Vater Calum

 

Vier Wege zum Film

 

Seit der Premiere im Mai 2022 in Cannes gewann «Aftersun» mehr als 30 internationale Film- und Festivalpreise und wurde für mehr als 60 weitere nominiert. Im Rahmen des British Academy Film Awards 2023 steht der Film in den Longlists der Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch und Paul Mescal als Bester Hauptdarsteller. Solche Auszeichnungen lassen aufhorchen und ich frage mich, was ich von diesem Film für mein Leben mitnehmen will. Die folgenden vier Vorschläge bieten sich als Einstiegsmöglichkeiten an, dass Sie meine Frage auch für sich beantworten können:

Die 11-jährige Sophie (jung Frankie Corio, älter Celia Rowlson-Hall) und ihr Vater Calum Aaron Patterson (Paul Mescal) sehen sich seit der Scheidung der Eltern nur noch, wenn sie miteinander ihren Urlaub verbringen. Beide haben eine enge Bindung miteinander, driften aber dennoch auseinander. Der erste Spielfilm der 35-jährigen britischen Filmemacherin Charlotte Wells schildert diese Vater-Tochter-Beziehung behutsam.

Zwanzig Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Urlaub mit dem Vater blendet die Filmemacherin, erschüttert und zärtlich zugleich, auf jene Zeit zurück und kreiert ein buntes, vielschichtiges Porträt ihrer Beziehung, indem sie versucht, den Vater, den sie kannte, mit dem Mann, den sie nie kennenlernte, zu versöhnen, in einer Coming-of-Age-Geschichte und gleichzeitig einem Familienporträt.

In der Vater-Tochter-Story des Films erleben wir wirklich oder wahrscheinlich belanglose Handlungen von Calum und Sophie, die fast wie Geschwister miteinander umgehen: Er ein noch jugendlicher Vater, sie kurz vor der Pubertät, verbringen ihren Urlaub unterhaltsam und gewöhnlich, bis wachsendes Unbehagen und Schwermut zu spüren sind.

Gegen Schluss bittet Calum Sophie, dass sie ihm später einmal als Teenagerin alles von Partys, Freunden und Drogen erzählen soll. Dabei ist er jemand, um den ein trauriges Mysterium entsteht: Dass er sie einmal im Stich lässt, im Meer verschwindet und dann allein im Zimmer zittert und schluchzt, während Sophie mit grossen Schritten dem Kindesalter entwächst.

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Sophie im Ferienressort

Vom Ursprung des Films: Antworten der Autorin/Regisseurin Charlotte Wells und der Produzentin Adele Le Romanski

 

Wells: Meine Eltern waren ziemlich jung, als ich geboren wurde, und als ich aufwuchs, hatte mein Vater mit meinem Bruder ständige Auseinandersetzungen, auch wenn dies ihm nichts auszumachen schien. Diese Beziehung zum Vater galt es für mich zu erkunden, als ich gegen Ende meines Filmstudiums Ferienalben aus der Jugend durchblätterte. Daraus wurde «Aftersun»! Monatelang am Drehbuch zu arbeiten, bedeutete für mich, Erinnerungen an meine Jugend, meine Eltern, speziell meinen Vater wachzurufen und auszuhalten. Dieser bewegende, oft schmerzhafte Prozess beeinflusste mein Drehbuch wesentlich und verlieh dem Film das Spezielle, Persönliche, Emotionale, Autobiografische.

Romanski: Als Charlie mir 2017 die Idee zu diesem Film vorschlug, war ich sofort begeistert, wie sie uns mit ihrer Erfahrung mitnehmen möchte, ermutigt durch den Erfolg ihrer Kurzfilme und die Art und Weise, wie sie die Geschichte zu erzählen gedachte. Als das Drehbuch in einem ersten Entwurf vorlag, war Sophies Welt so authentisch im Film umgesetzt und die Vater-Tochter-Beziehung so anders formuliert, als dies üblich geschieht. Ich erinnere mich noch genau, dass ich nach dem Lesen lange Zeit schweigend dasass und wusste: Charlie ist dafür die richtige Autorin.

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Langweilig und was dahinter liegt

Was bedeutet und was gibt uns «Aftersun»?

 

Beim Lesen der publizierten Filmbesprechungen von «Aftersun» fand ich keine der üblichen negativen Kritikerbemerkungen, sondern ausschliesslich positive, vielfältige, originelle und kluge Würdigungen, die der Form und dem Reichtum des Films entsprechen. Hier folgen, leicht bearbeitet, einige Kommentare, Deutungen und Wertungen der internationalen Presse. Mit diesen bin ich grundsätzlich einverstanden, wenn ich auch selbst nicht jedes Detail des Films verstanden habe. Die eine oder andere Anmerkung wird wohl dem einen oder der andern von Ihnen dienen:

«Ein Versuch, die Zeit anzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen.»

«Konserviertes Glück, konservierter Schmerz.»

«Bilder, die sich zu Bedeutungen und Affekten zusammensetzen, sind im nächsten Moment wieder verflüchtigt, zeigen das, was ist und nicht mehr ist.»

«Das Gestern existiert als Collage alter Aufnahmen.»

«Ein üppiges, heiteres, aber auch ein furchtbar trauriges Sinneserlebnis.»

«Auch wenn im Film äusserlich nichts besonders Schlimmes passiert, liegt eine solche Stimmung in der Luft, nach dem Sehen fühlt man eine Art Traurigkeit, die man nicht genau beschreiben kann.»

«Ein unzuverlässiges Spiel mit der Medialität von Erinnerungen, die mal in einem fiktional aufbereiteten Mikrokosmos verharren, mal von assoziativen Gedankensplittern zerrissen werden, um schliesslich das Zusehen selbst offenzulegen.»

«In den Momenten der Zuneigung scheint das Tragische immer auch anwesend zu sein.»

«Mit der Kamera von Gregory Oke und der Musik von Oliver Coates hat Charlotte Wells eine Ästhetik geschaffen, die durch den reichen Einsatz von Farben und Licht und scharfen Auge für Details Sophies Innenleben erlebbar macht.»

«Das Publikum ist angehalten, die Lücken zu füllen und so die Teilnahme an der narrativen Konstruktion zu erzwingen.»

«Ein Versuch, die eigene Geschichte zu schreiben und festzuhalten, um sich dann immer wieder in sie zurückzusehnen.»

«Ein Film, der von der Flüchtigkeit der Erinnerungen erzählt.»

«Die Regisseurin entlarvt die nostalgische Fantasie als aussichtsloses Unterfangen.»

«Mit ganzer Kraft reisst die Zeit ihre Wunden auf und spült noch einmal alles nach oben, was sich nicht wiederherstellen lässt.»

«Bleiben nur noch die Konserven, die stellvertretenden Abziehbilder auf Fernsehgeräten und Handys, in denen sich Gestalten und Schatten spiegeln.»

«Wenn sich die ältere, lebenserfahrene Sophie an die Momente mit ihrem Vater zurückerinnert, verleiht dies den Begebenheiten eine tiefe Melancholie.»

«Eine Party im Stroboskop: Fragmente flimmern, Lichtwürfe flackern, Unbekanntes ersetzt Bekanntes.»

«Der Film erzählt im Perfekt, nicht im Präsens.»

«Eine Liebeserklärung an den Vater, aber auch eine Abrechnung mit den vermeintlich sicheren Fremdbildern, die man voneinander hat.»

«Das Erlebte verabschiedet sich für immer und zieht sich in das filmische Gedächtnis zurück. Die Tür wird geschlossen und geht nicht wieder auf.»

«Wells setzt nicht nur auf Drama und Dialog, sondern hält den Gedankenstrom in der Schwebe zwischen der unbeschwerten Vertrautheit von Vater und Tochter und einem subtilen Gefühl des Abschieds von Kindheiten, Lebensträumen und endgültigen Selbstbildern.»

«In der eindringlichen Schlussszene bleibt nur das Durchschreiten eines Portals: Das Erlebte verabschiedet sich für immer und zieht sich in das filmische Gedächtnis zurück.»

«Ein hinreissender Film über das Ende einer Kindheit und deren verborgene Rätsel.»

Und damit bleibt offen, welche Bedeutung «Aftersun» für Sie, für dich und für mich hat. Diese zu suchen, nicht zu finden, vielleicht der tiefste Sinn des Filmsehens, des Sehens, des Hörens, des Wahrnehmens. Vielleicht nimmt man besser Abstand, die Filmbilder in Worte zu übersetzen und sie mit Literatur zu erklären. Vielleicht bringt uns der Vergleich mit Werken der bildenden Kunst oder der Musik mehr: Bilder von Vermeer, Tizian oder Rembrandt, Musik von Bach, Beethoven, Mozart oder Gershwin (ich komme eben von einer Aufführung von «Rhapsody in Blue») – Kunstwerke, die dem Film von Charlotte Wells näher sind.

Regie: Charlotte Wells, Produktion: 2022, Länge: 94 min, Verleih: Outside the Box