All This Victory
Marwan und vier weitere Menschen in der Wohnung
Während des Libanonkrieges 2006 fährt Marwan aus Beirut in den Süden, um seinen Vater Abou Nasser aus der Kampfzone zu holen. In der Zwischenzeit bereitet seine Frau Rana ihre Auswanderung nach Kanada vor. Der Sohn findet seinen Vater nicht im Haus, dafür zwei alte Nachbarn. Als die Kämpfe wieder aufflammen, verschanzen sich die drei Männer, zusammen mit einem Paar, im Erdgeschoss eines Hauses, das bisher wie durch ein Wunder verschont geblieben ist. Mit jedem Bombeneinschlag nimmt die Anspannung im Innern zu und wird zur Nervenprobe, als kurz darauf ein Trupp israelischer Soldaten, nichts ahnend, das obere Stockwerk besetzt.
Der 1981 geborene libanesische Künstler und Filmemacher Ahmad Ghossein schuf einen inspirierten mehrfach ausgezeichneten Spielfilm, der auf eigenen Erfahrungen während des Krieges zurückgeht. In seinem Spiel mit dem Raum und dem Off mit den Israelis, der Musik und einem traumähnlichen Unterton, beklagt der Film nicht nur die Absurdität des Krieges, sondern befragt aus philosophischer Perspektive die Desillusionierung im Libanon und andern Schauplätzen der Welt und die fundamentale Orientierungslosigkeit in den Kriegen.
Ein Zwischenruf
Zur gleichen Zeit, in der Putin die Ukraine zerstört und annektiert, unzählige Menschen tötet und ebenso viele in die Flucht treibt, ehrt die Filmwelt in Cannes den Hollywoodstar Tom Cruise für sein Gesamtwerk; dieser bringt «Top Gun: Maverick», die ebenso martialische Fortsetzung von «Top Gun», der Zerstören und Töten zelebriert. Hier muss Pete «Maverick» Mitchell eine Atomanlage in einem nicht benannten Land vernichten. Und zudem eröffnet der widerliche Zombiefilm «Coupez!» das Festival.
Ist da nicht eine Frage nach dem Stil resp. der Moral erlaubt? Ist eine solch kriegerische Filminszenierung noch erlaubt, während die Menschen in der Ukraine unter dem russischen Angriffskrieg leiden? Dies am Tag nachdem Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zum Festivalpublikum sprach: «Jeden Tag sterben Hunderte von Menschen. Sie werden nach dem Schlussapplaus nicht wieder aufstehen.» Ein Zwischenruf und Fragen dahinter, die nicht nur, so meine ich, für Cannes und Kiew gelten.
Die Frau im Männerquintett im besetzten Haus
Anmerkung des Regisseurs
Ich erinnere mich, wie meine Mutter nach dem Krieg im Juli 2006 vor den Trümmern ihres Hauses stand und nach ihrem Familienalbum suchte. Sie drehte sich zu mir um und sagte: «Krieg bedeutet nicht nur Tod und Zerstörung, sondern auch das Verschwinden der Erinnerung. Ich will nicht, dass meine Erinnerung ausgelöscht wird.» Häuser waren ausgebrannt, ganze Dörfer zerstört. Als ich all das sah, hatte ich das Bedürfnis, mit meiner Kamera diese Erinnerung wiederzubeleben und zu versuchen, die Zerstörung aufzuhalten. Marwan macht sich im Film auf die Suche nach seinem Vater, um zu retten, was von seiner Integrität und ihrer Beziehung übrig ist. Mein Film stellt die Frage, ob die einzige Option für meine Generation und die unserer Kinder im heutigen Libanon darin besteht, das Land zu verlassen. Ist das unsere einzige Wahl?
Einer der Männer und die Frau im Erdgeschoss
Wie sind Sie, Ahmad Ghossein, auf die Idee zu «All This Victory» gekommen?
Die Idee basiert auf einer wahren Geschichte, die sich während des Libanon-Krieges 2006 zugetragen hat. Ich habe bereits damals von ihr erfahren, sie aber erst ein paar Jahre später aufgeschrieben und 2013 dann einen ersten Drehbuchentwurf fertiggestellt. Es ist die Geschichte von fünf Menschen, die das Erdgeschoss eines kleinen Hauses in Froun, in Wadi Al Hujair, Südlibanon, dem Dorf meiner Mutter, nicht verlassen konnten. Sie sassen tagelang dort fest, nachdem israelische Soldaten in das Dorf eingedrungen waren und das Gebäude besetzt hatten, ohne von der Anwesenheit der fünf Personen in der Parterrewohnung zu wissen.
Die Geschichte ging mir lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf. Als ich beschloss, sie aufzuschreiben und zu verfilmen, ging ich in das Dorf, um jene Menschen zu treffen, die sie erlebt hatten, die unter den Folgen litten, die während der Tage der Belagerung Stress, Verunsicherung und Angst empfunden hatten. Sie erzählten mir die Ereignisse in groben Zügen, liessen jedoch die Details aus, die mich gerade in besonderem Masse interessierten. Ich wollte wissen, wie sie diese langen Momente ertragen konnten, erfahren, was sie gefühlt und wie sie sich genau verhalten hatten. Es war mir wichtig, kleine, aber bedeutsame Details zu erfahren: zum Beispiel, wie sie auf die Toilette gingen, wie sie Wasser holten, wie sie die Situation draussen durch Ritzen und Löcher in Fenstern und Wänden beobachteten, was sie empfanden, als sie die israelischen Soldaten durch die Wände hindurch Hebräisch sprechen hörten, eine Sprache, die sie nicht verstehen.
Eine Frau neben den vier Männern
Aus dem Spiel der Akteure kristallisiert sich die Aussage
Um diese kleinen, doch bedeutsamen Details ging es Ahmad Ghossein – und geht es wohl auch uns. Bei einem Kammerspiel, was «All This Victory» im Grunde wohl auch ist, wird man eingeladen, die feinen und feinsten Spiele zwischen den Menschen wahrzunehmen und zu deuten.
In einem Interview fährt Ghossein fort: «Keiner nannte mir die Einzelheiten, nach denen ich fragte, keiner beschrieb mir seine damalige Verfassung. Das waren Dinge, über die sie nie sprechen würden. Also musste ich meiner Fantasie und Kreativität erlauben, die Geschichte selbst zu schreiben und darauf aufzubauen. Dabei versuchte ich, jede Regung ihres Zustands zu erfassen: ihren Körper, ihre Atmung, das Gehen, das Schwitzen, die extreme Hitze und ihre Beziehung zur Aussenwelt, den Kontrast des Lichts zwischen draussen und drinnen. Ich habe mir auch vorzustellen versucht, was sie hörten, die Art der Geräusche, die von draussen kamen, ihre Wirkung auf sie, die Stille. Es war mir wichtig, Momente einzufangen, die nicht direkt mit dem Ereignis zu tun hatten; also diese Anekdoten sind, nach meiner Meinung, ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte.»
Der Regisseur musste also die Teile des Mosaiks erfinden, festhalten und zusammensetzen. Das tat er mithilfe der fünf Akteure, die als Privatpersonen einiges davon selbst erlebt haben und jetzt als Spielende in die Geschichte einbringen. Entstanden ist ein umfassendes Bild von Menschen in prekärer Lage: als Bedrohte, Verfolgte, Verunsicherte, Gefangene. Das Agieren und Reagieren der vier Männer und einer Frau – bildet das Stück Leben, das sie als Mitmenschen unter einem Dach vereinte. «Die Chemie zwischen den Schauspielerinnen und Schauspieler war mir wichtig. Darauf habe ich bei der Auswahl am stärksten geachtet, denn die Harmonie unter den Darstellenden unterstützt die Vision des Filmes. In diesem Prozess steckt viel Liebe», meint der Regisseur. Das Spiel wird so zu einem auf fünf Personen reduzierten Welttheater. Hier wird durchdekliniert und durchkonjugiert, was Menschen unter erschwerter Situation miteinander erleben. Es lohnt sich, der wunderbaren Performance mit ihren tiefmenschlichen Aussagen zu folgen und ihnen zu glauben. Sie verdichten sich zu einer berührenden «Conditio humana».
Wohin wohl geht der Blick aus diesem Fenster?
Ahmad Aussage versus Jean-Paul Sartre
Spontan fiel mir beim Film «All This Victory» das Zitat von Jean-Paul Sartre ein, «Die andern sind die Hölle», nicht als zutreffend, sondern als Gegensatz zu dem, was ich allmählich als seine Aussage zu spüren begann: «Die andern, das sind die Mitmenschen.»
Sartre und Ghossein vertreten, nach meiner Meinung und etwas vereinfacht, zwei Formen des Humanismus: der erste einen europäischen, aus dem Christentum entstandenen Existenzialismus, der zweite einen orientalischen, aus dem Islam erwachsenen. Was uns das grossartig spielende Schauspiel-Quintett in der halbzerbombten Wohnung im Libanonkrieg anbietet, ist ein umfassendes und differenziertes Universum existenzieller Äusserungen und Befindlichkeiten: das Gleichnis einer wunderbaren Mitmenschlichkeit.