Als die Sonne vom Himmel fiel

Die letzten Hiroshima-Zeugen: Aya Domenig gibt ihren Grosseltern und weiteren Überlebenden von Hiroshima in einem höchst eindrücklichen und informativen Film das Wort. Ein Zeitzeugnis, wie es war, und eine Analyse, wie die Welt sich kaum ändert.
Als die Sonne vom Himmel fiel

Überlebende Rotkreuzkrankenschwester Chizuko Uchida (93)

Auf den Spuren ihres verstorbenen Grossvaters, der sich unmittelbar nach dem Abwurf der Atombombe am 6. August 1945 als junger Arzt im Rotkreuzspital von Hiroshima um die schwer verwundeten und sterbenden Menschen gekümmert hat, begegnet die Schweizerin Aya Domenig einem ehemaligen Arzt, einer Krankenschwester und ihrer Grossmutter, welche die Katastrophe erlebt haben. Nachdem sich am 11. März 2011 in Fukushima eine neue Atomkatastrophe ereignet hat, wird ihre Reise in die Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt. Sie nimmt eine neue Wende, und ihre Protagonisten übernehmen neue Aufgaben. Sie gehen an die Öffentlichkeit und warnen vor der Gefahr der atomaren Verstrahlung. Die Protagonisten des Dokumentarfilms treten unermüdlich gegen das grosse gesellschaftliche Schweigen an, das bis heute über die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen der Atombombenabwürfe und der AKW-Unglücke herrscht.

Aya Domenig, die Vermittlerin

Aya Domenig, die Regisseurin des Dokumentarfilms, wurde 1972 in Japan geboren, wuchs in der Schweiz auf, wo sie Ethnologie, Filmwissenschaften und Japanologie studierte. Ab 1996 verbrachte sie ein Jahr als Austauschstudentin in Tokyo, wo sie ihren ersten Dokumentarfilm realisierte. Danach arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin am Volkskundlichen Seminar. Ab 2001 studierte sie Filmregie an der Zürcher Hochschule der Künste. Ihr Diplomfilm wurde an diversen Filmfestivals gezeigt und ausgezeichnet. Dann war sie als Cutterin für den Dokumentarfilm «Zeit des Abschieds» unter der Regie von Mehdi Sahebi tätig, der 2006 in Locarno und Belfort prämiert wurde. «Als die Sonne vom Himmel fiel» ist ihr erster langer Dokumentarfilm.

Aya Domenig ist es zu verdanken, dass an die erste Atombombenkatastrophe, ein negatives Grossereignis der Weltgeschichte, noch einmal im Originalton erinnert wird. Somit ist «Als die Sonne vom Himmel fiel» nicht irgend ein kleiner Schweizer-Film, sondern ein Film mit weltweiter Bedeutung.

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Grossvater Shigeru Doi (1914 – 1991)

Hintergründe

Als am 6. August 1945 um 8:15 Uhr die Atombombe über Hiroshima detonierte, befand sich Ayas Grossvater 20 km von Hiroshima entfernt in der Eisenbahn. Durchs Fenster sah er den Blitz und den aufsteigenden Atompilz. Die Bahn fuhr weiter bis zur letzten Haltestelle vor Hiroshima, von wo aus er sich zu Fuss in die brennende Stadt begab. Über Umwege erreichte er das Rotkreuzspital und nahm dort seine Tätigkeit als Arzt der inneren Medizin auf. Ihre Grossmutter, die mit der 2 1/2-monatigen Tochter, die spätere Mutter von Aya, etwa 75 km von Hiroshima entfernt auf dem Land wohnte, erhielt während zehn Tagen kein Lebenszeichen von ihrem Mann. Von Flüchtlingen aus der Stadt erfuhr sie, dass eine «neuartige» Bombe über Hiroshima explodiert war und die Stadt dem Erdboden gleichgemacht hatte.

«Schon als Kind habe ich mich gefragt, was mein Grossvater in den Wochen und Monaten nach dem Abwurf der Atombombe in Hiroshima wirklich erlebt hat. Doch er wollte nicht über seine Erfahrungen sprechen. Er meinte, dass kein Aussenstehender das Grauen würde nachvollziehen können, das er damals erlebt hatte. Bis zu seinem Tod brach er sein Schweigen nicht, und so blieb dieser Aspekt meiner Herkunft ein grosses Fragezeichen, was einerseits Unbehagen in mir erzeugte und andererseits wie eine Aufforderung auf mich wirkte, dieser Geschichte eines Tages auf den Grund zu gehen.»

Inmitten der atomaren Hölle

Zum Zeitpunkt des Abwurfs der Atombombe befanden sich laut «Hiroshima A-Bomb Medical Care History» 298 Ärzte in Hiroshima. 60 von ihnen wurden sofort getötet, 210 verwundet. 28 Ärzte, 20 Zahnärzte, 28 Apotheker und 130 Krankenschwestern blieben unverletzt. Diese kleine Gruppe kümmerte sich in der Folge um Tausende von Verletzten und Sterbenden. Oft waren sie selbst verwundet und setzten für ihre Arbeit ihre letzten Kräfte ein. Mit ihrem Einsatz waren sie massgeblich am Wiederaufbau und an der Genesung der Gesellschaft beteiligt. Im Überlebenswillen der Verwundeten und in den unermüdlichen Bemühungen der Ärzte und Krankenschwestern sieht der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Ôe die wahre Kraft, die der Mensch der atomaren Katastrophe entgegenzusetzen hatte.

Einige heute noch lebende Krankenschwestern und Ärzte, die sich nach dem Abwurf der Atombombe um die Verletzten gekümmert haben, sind die letzte Generation der Überlebenden. Als Erste in der Menschheitsgeschichte haben sie die Auswirkungen einer Atombombe am eigenen Leib erfahren und sind mit dieser Erfahrung alt geworden. «Ich begann, mich immer mehr dafür zu interessieren», schreibt die Regisseurin, «welcher Art diese Veränderung ist und wie sie im heutigen Alltag meiner Protagonisten spürbar wird. Was genau haben sie den nachfolgenden Generationen mitzuteilen? Was können wir von ihnen lernen?»

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Grossmutter Kiyomi Doi (1926 – 2013)

Die verdrängte Vergangenheit

Die Suche nach der Vergangenheit ihres Grossvaters führte die Filmemacherin über die Auseinandersetzung mit den kritisch denkenden Protagonisten Chizuko Uchida und Shuntaro Hida zur Einsicht, dass in ihrer Familie, genauso wie im grössten Teil der japanischen Bevölkerung, die Atombombe verdrängt wird. Nicht nur der Grossvater hat Zeit seines Lebens geschwiegen, seine Familie hat ihm praktisch keine Fragen gestellt und seine Krankheit nie mit der Verstrahlung, der er in Hiroshima ausgesetzt war, in Verbindung gebracht. Dass nicht nur ihr Grossvater, sondern sehr viele Atombombenopfer geschwiegen haben, hatte verschiedene Gründe. Einerseits sass das Trauma bei vielen sehr tief, andererseits gab es während der Zeit der amerikanischen Besatzung ein striktes Verbot, über Einzelheiten der Atombombe und deren Auswirkungen zu sprechen. Das politische Klima in den 50er-Jahren war sehr ungünstig für die Enthüllung atomkritischer Tatsachen. Die Amerikaner führten damals einen Atombombentest nach dem anderen durch und propagierten die «friedliche Nutzung» der Kernenergie. «Das Schweigen in meiner Familie führte mich also auf die Spur von grösseren gesellschaftlichen und politischen Verdrängungsprozessen, die zu den zentralen Themen des Films geworden sind», heisst es weiter bei Aya Domenig.

Zurück in die Gegenwart

«Als ich im Jahr 2010 mit meinen ersten Recherchen begann, konnte ich noch nicht ahnen, dass mich ein Jahr später die Atomkatastrophe von Fukushima in die Gegenwart zurückreissen würde. Doch das Unvorstellbare geschah, und es wurde für mich vor allem eines auf erschreckende Weise deutlich: Das Schweigen wiederholt sich nach Fukushima. Gesellschaft und Politik bauen auch heute darauf auf, dass die Menschen vorwärts schauen und Unangenehmes vergessen wollen. Zu wichtig ist die Atomindustrie in Japan, zu wenig können sich die Menschen eine radikale Wende vorstellen.» Zunächst gab es zwar eine gewisse Hoffnung. Nach der Reaktorkatastrophe gingen weltweit Zehntausende auf die Strassen und demonstrierten gegen die Wiederaufschaltung der stillgelegten AKWs. Fukushima würde, so dachte nicht nur sie, den Menschen endlich die Augen öffnen und zu notwendigen Veränderungen führen. «Auch wenn die eingetretene Entwicklungen viele Japaner und auch mich pessimistisch stimmen, ist es wichtig, nicht aufzugeben. So wie die Protagonisten meines Films, die es sich seit Hiroshima, allen Widerständen zum Trotz, zur Aufgabe gemacht haben, aktiv gegen das Verschweigen und für die Rechte der Opfer zu kämpfen.»

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Weltweite gab es Strassenproteste

Abgesang

Als Erste in der Geschichte der Menschheit haben die Menschen in Hiroshima die Auswirkungen einer Atombombe am eigenen Leib erfahren und sind mit dieser Erfahrung alt geworden. Ähnlich war es in Nagasaki, in Fukushima und in Tschernobyl. Nach jeder dieser Katastrophen ging eine Welle der Betroffenheit und des Willens zum Umdenken um den Erdball. Doch nur kurze Zeit danach hat sich diese in fast nichts aufgelöst. Die sogenannte friedliche Verwendung der Atomkraft und die militärische Nutzung der Atombombe als Option der Politik verfolgten und verfolgen das Ziel des gesellschaftlichen «Fortschritts», der jedoch nichts anderes meint als mehr Geld, mehr Konsum, mehr Verbrauch, mehr Luxus – letztlich mehr «Haben», statt mehr «Sein», wie es Erich Fromm 1976 kritisiert und Meister Eckhart um 1300 gepredigt hat: «Die Menschen sollten nicht so sehr bedenken, was sie tun sollen, sondern was sie sind.» Neu wird die Diskussion wohl erst dann wieder aufkommen, wenn Terroristen ihre ersten Atombomben zünden.

Der sorgfältig komponierte (Drehbuch und Regie Aya Domenig), klug geschnittene (Tanja Stöcklin), einfühlsam vertonte (Marcel Vaid) sowie eindrückliche und nachhaltig wirkende Film «Als die Sonne vom Himmel fiel» macht mich sehr traurig, wütend und verzweifelt. Und dennoch: Der Film bleibt ein Muss!

Regie: Aya Domenig, Produktion: Schweiz 2014, Länge: 78 min, Verleih: LookNow