Ama-San

Japanische Muscheltaucherinnen: Cláudia Varejão erzählt im Film «Ama-San» von japanischen Frauen, die seit Jahrzehnten nach Muscheln tauchen: ein Dokument weiblicher Freundschaften, gleichzeitig einer untergehenden Kultur.
Ama-San

Bereit zum Tauchgang

In Wagu, einem Fischerdorf auf der Halbinsel Izu, einem abgelegenen Ort an der Pazifik-Küste Japans, lebt eine Gemeinschaft von Fischerinnen, die eine zweitausend Jahre alte Tradition, obwohl vom Aussterben bedroht, mit Engagement und Begeisterung weiterführt. Jeden Tag tauchen die Ama-San (wörtlich: Frauen des Meeres) nach Algen und Krustentieren, die sie selber essen oder verkaufen. Ein Sprung ins Wasser, und das Licht der Nachmittagssonne bricht sich in den Wellen. Die Frauen tauchen ohne Sauerstoffflasche, aber auch ohne sportliche Ambition. Die Luft in ihren Lungen muss reichen, um vom Meeresgrund Seeigel, Kugelfische und im Glücksfall Abalone-Muscheln nach oben zu bringen. Viele widmen sich bloss für eine bestimmte Zeit dem Tauchen, wenige haben es zu ihrem Beruf gemacht, den sie jedes Jahr von März bis September ausüben. Insgesamt gibt es im Dorf etwa fünfzig Frauen, die täglich tauchen, sieben davon besteigen jeden Morgen den «Minemaru», einen kleinen Fischkutter, und fahren hinaus.

Laut den Mythen Japans entstand das Meer aus den Tränen der Götter, weshalb die Taucherinnen, die sich unter Wasser wie elegante Meerjungfrauen bewegen, wohl auch ihre Arbeit mit Gebeten begleiten. Seit jeher gelten die Ama-San als Vorreiterinnen der gesellschaftlichen Entwicklung, sie fordern Respekt für Frauen und erhalten ihn. Denn wenn die Männer längere Zeit auf der Jagd oder zum Fischen auf See sind, müssen sie die Familie ernähren. Den Winter über arbeiten sie auf dem Feld, sobald es wärmer wird, kommen sie an den Strand. Gelegentlich gibt es bei ihrer Beute mal Austernperlen, die symbolisch für Kraft, Schönheit und Spiritualität stehen, was auch auf sie abfärbt. Ihr Tun bringt ihnen Unabhängigkeit und Selbstwert, einmalig im patriarchalen, konservativen Japan.

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Mit einem besonderen Fund

Anteilnahme und Zeitzeugnis

Magisch schwebende Emotionen erfüllen einzelne Szenen: bei den Tauchgängen, den rituellen Vorbereitungen und in den Familien. Nicht selten hat man das Gefühl, die Zeit stehe still. Kühle Bilder unter Wasser wechseln mit solchen oben in warmem Licht der Innenräume. Ruhige Kamerabewegungen während des Tauchens lassen die Bewegungen der Schwimmenden nachempfinden.

Die portugiesische Filmemacherin und Fotografin Cláudia Varejão zeigt uns vor allem den Alltag von drei Frauen, von Mayumi, Masumi und Matsumi, aus der Nähe. Ihr Tagesablauf bestimmt die Filmhandlung. Die Gesten und Worte während ihrer Arbeit machen uns zu Zeitzeugen eines aussterbenden Berufes. Gleichzeitig nehmen wir Anteil an den heiteren und ernsten, frechen und ausgelassenen Festen samt sentimentalen Liebesliedern der Frauen. Jede von ihnen steht für eine andere Generation, die Jüngste und die Älteste trennen mehr als vier Jahrzehnte.

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Vor dem Tauchgang

Inszenierte Dokumentation

«Ama-San» ist ein Dokumentar- und gleichzeitig ein Spielfilm, also ein «documentaire romancé», wie solche Filme schon genannt wurden. Die plastische Schärfe der Bilder gehört eher zum Dokumentarfilm, die Erzählfreude zum Spielfilm. Seine Authentizität kommt wohl daher, dass die Ama-San-Frauen völlig natürlich handeln und ihr Leben wie selbstverständlich vor der Kamera leben. Ihre Gespräche handeln von den Problemen und Freuden des Alltags. Als Ganzes thematisiert der Film diskret und unpolemisch den Unterschied zwischen dem verbreiteten Bild der Japanerinnen und jenem der Ama-San-Frauen.

Ama San4©Vincafilm
Auch Religion spielt eine Rolle

Von der Kraft und Macht der Frauen

«Wenn es mir im Film zunächst darum ging, die Besonderheiten dieser Tradition zu beobachten, so habe ich meinen Blick, je näher ich diese Frauen kennenlernte, immer mehr auf das verborgene Meer in den Frauen selbst gerichtet. Niemand kann die Tiefen und Untiefen dieses Meeres abschliessend ergründen. Das Herzstück des Films sind Frauen, deren Antagonist das Leben selbst ist, an dem nichts und alles heldenhaft ist. Es ist ein Film über das Feine, was eine Frau, die zu allem befähigt ist, sich erlaubt. Es geht um die Kraft von Frauen und den Weg, den sie für sich auf dem Wasser und auf dem Land erobert haben. Letztlich um Macht: nicht über andere, sondern über den eigenen Körper und gegenüber dem Leben.» So Cláudia Varejão, die Regisseurin.

Wenn bei Zuschauenden vielleicht gelegentlich das Gefühl aufkommt, der Film sei zu wenig auf ein Thema hin fokussiert, er lebe aus Fragmenten, so hat das seinen Grund. Die Regisseurin hat den Film, so meine ich, wohl absichtlich nicht auf eine exakte Aussage hin konzipiert und gestaltet. Sie lässt uns Freiräume, zum individuellen Hineinhorchen und Hineinsehen. «Ama-San» wird so zu einem anrührenden, stillen und besinnlichen Epos einer besonderen Frauengruppe – und endet mit einem langen Blick aufs Meer, in Erinnerung, dass dieses aus den Tränen der Götter stammt.

Regie: Cláudia Varejão, Produktion: 2015, Länge: 99 min, Verleih: Vinca Film