Amerrika

Über die Situation in Palästina berichtet das Fernsehen vor allem dann, wenn es Tote gibt oder Politiker neue (Hiobs-)Botschaften verkünden. Wie die Menschen in diesem seit sechzig Jahren besetzten Land leben, darüber vernimmt man in aktuellen Medien nur wenig.

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Spielfilme können diese Lücke füllen und die Befindlichkeit der Menschen in diesem Land erlebbar, nachvollziehbar machen. Der Spielfilm «Amerrika» von Cherien Dabis erzählt die Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes, die das Glück haben auswandern zu können.

Aus der besetzten Westbank direkt ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Das gibt es nicht alle Tage. Wie Muna, eine unternehmungslustige Mutter, und ihr Sohn Fadi dem US-amerikanischen Zollbeamten gegenüber stehen, können sie ihre Vorfreude kaum zügeln. Die Greencard bedeutet für sie das Ende ihres durch Schikanen und Entbehrungen gekennzeichneten Lebens in Palästina und verheisst eine goldene Zukunft.

Aber erfüllen sich ihre Träume auch wirklich? Schon Munas Jobsuche erweist sich als Herausforderung, trotz tatkräftiger Unterstützung durch ihre Schwester Raghda und deren Familie, bei der die beiden vorerst unterkommen. Der amerikanische Traum beginnt sich selbst für die lebenslustige Frau in Nichts aufzulösen. Und Fadi muss schmerzhaft lernen, sich im sozialen Minenfeld einer Vortadt-Highschool zu bewegen.

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Weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft

«Amerrika» der 33-jährigen Cherien Dabis erinnert an «Salt of this Sea» von Annemarie Jasir, der letztes Jahr in den Kinos lief: In beiden Filmen geht es um das Leben in Israel/Palästina, um die Verwurzelung respektive Entwurzelung an einem Ort und in einer Gemeinschaft. Im zweiten sucht die Protagonistin nach den Wurzeln ihrer Familie in der besetzten Westbank. Im ersten geht es um das Suchen einer neuen Heimat in der Neuen Welt, nachdem es den Palästinensern weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart möglich war, menschenwürdig zu leben. In Palästina herrscht keine Bewegungsfreiheit und praktisch keine Hoffnung auf eine Zukunft. Angesichts der täglichen Erniedrigungen, Militärpräsenz, Aggressionen, Strassensperren und bürokratischen Hürden bleibt nur der Wunsch, auszuwandern.

Der Titel, eine ironische Referenz an das Sprachgemisch aus Arabisch und Englisch, das in Palästina gesprochen wird, bedeutet Konfrontation, Fusion und Konfusion. Auf zuweilen kuriose, manchmal schmerzvolle, meist unterhaltsame Weise erleben die beiden, dass das Leben auch in «Amerrika» kein Zuckerschlecken ist.

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Erlebtes in den Film verwoben

Den Ursprung hat die Story in der Zeit des Golfkrieges, bestätigt wird es in den Ereignissen von 9/11, während denen die Familie der Filmemacherin Morddrohungen erhalten hat, der Vater, eines angesehenen Arztes, mit Rufmord erledigt wurde und die Kinder vom Secret Service verhört worden sind, weil ein Gerücht herumging, die 16-jährige Tochter wolle George W. Bush ermorden. Durch solche Ereignisse sensibilisiert, entdeckte Cherien Dabis, wie auch im Radio und Fernsehen das Klischee der Araber als Selbstmordattentäter verbreiten und in den Filmen, vor allem jenen aus Hollywood, die Araber entweder nicht existieren oder Terroristen sind.

Da die Regisseurin Mut machen will, gibt auch die lebensfrohe Muna im Film nicht auf und kommt so an ein vorläufiges Ziel. Wenn schon die Vergangenheit verunmöglicht, die Gegenwart ständig behindert und die Zukunft weiterhin ungewiss ist, so bietet doch nach den ersten turbulenten Ereignissen eine Fahrt in ein arabisches Lokal für den Augenblick etwas Erleichterung und Hoffnung beim gemeinsamen Essen, Trinken, Wasserpfeife Rauchen und Singen.

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Abgereist, doch nicht angekommen

Aus einem Land heraus in ein anderes hinein – und gleichwohl nirgends zu Hause, das ist das Thema dieser Geschichte, das Schicksal vieler Menschen heute, im Nahen Osten und auch anderswo.

Davon handelt auch das letzte, posthum erschienene Werk von Hugo Loetschers «War meine Zeit meine Zeit». Er transponiert die Thematik ins Allgemeinmenschliche: «Nun bin ich längst nicht überall angekommen, wo ich eingetreten, ausgestiegen oder gelandet bin. Es gab Städte, wo ich einen Aufenthalt lang versuchte anzukommen, aber nie sicher war, bin ich da oder schon gegangen. So habe ich auch an Orten Abschied genommen, an denen ich nie angekommen bin.» So öffnet sich der Film, der tief im Persönlichen wurzelt, zum Gesellschaftlichen und Politischen, das uns alle angeht.