Amin
Gabrielle und Amin
Amin kam vor neun Jahren aus dem Senegal zum Arbeiten nach Frankreich. Von seiner Frau Aïcha und den drei Kindern getrennt, besteht sein Leben aus Arbeit auf Baustellen, Überstunden inklusive. Ausserhalb des Wohnheims kennt er kaum jemanden. Darunter, dass er seine Familie bloss ein-, zweimal im Jahr sehen zu kann, leidet er. Doch in die Heimat zurück kann er nicht, denn seine Angehörigen leben vom Geld, das er ihnen schickt. Sein Alltag ist weitgehend von dieser Pflicht bestimmt, bis er Gabrielle kennenlernt. Trotz Amins anfänglicher Zurückhaltung beginnen sich die beiden allmählich näherzukommen.
Philippe Faucon, der 1958 in Marokko geboren wurde, hat mit dem Spielfilm «Amin», dem siebzehnten seiner kurzen und langen TV- und Kinofilme, das Leben von Emigranten erstmals explizit aus der Perspektive des Ursprungs- und des Ankunftslandes thematisiert.
Amin aus dem Senegal
Ein weicher Film über harte Themen
Der junge Amin und der ältere Abdelaziz leben in zwei Welten: als Ehemann und Vater im Senegal, als Arbeitskraft in Frankreich. Sie sind gespalten in «Arbeit» und «Leben», einen Zustand, den Karl Marx und andere unter dem Begriff der Entfremdung analysiert und als einen Kern des Kapitalismus diagnostiziert haben. In diesem Sinn liefert «Amin» keine alltägliche, anrührende Dreiecksgeschichte, sondern mehr.
Die verschiedenen Geschichten der Männer und Frauen aus dem Senegal und in Frankreich bringt Grundsätzliches zu Darstellung. Nicht bloss bei der Titelfigur. Philippe Faucon schuf einen «Film im Plural». In dieser Verallgemeinerung dürfte er auch einen Beitrag liefern zur Klärung dessen, was immer häufiger als die Völkerwanderung des 21. Jahrhundert bezeichnet wird. Er führt uns in den erzählten Geschichten mit Zwischen-Tönen und Zwischen-Bildern zu einer grundsätzlichen Kritik des Kapitalismus.
Aïcha mit ihrem Schwager
Über die Entstehung des Films – aus einem Interview mit Philippe Faucon
Mir scheint, dies ist das erst Mal, dass Sie das Thema der Entwurzelung durch Immigration anschneiden, indem Sie ihre Geschichte auf zwei Schauplätze verteilen: das Ursprungsland und das Gastland. Warum haben Sie dies so ausgewählt? Weil es mir tatsächlich scheint, dass es auf diese Weise noch nie behandelt worden ist, obwohl doch gerade diese beiden Schauplätze der Migration zugrunde liegen. Das Kino eignet sich hervorragend, die beiden Welten gegenüberzustellen. Man geht von einer Sequenz im Ursprungsland direkt zu einer Sequenz im Gastland, indem man mit einem Schnitt die Bildinhalte miteinander konfrontiert: die Lebensbedingungen, die Sorgen der Personen, die gesellschaftlichen oder familiären Herausforderungen.
Auch wenn Amin die Titelfigur ist, ist das Drehbuch mehrstimmig. Das erlaubt, den Oberbegriff «Immigrant» in den Plural zu setzen und eine Vielzahl von Schicksalen mit dieser Problematik darzustellen. Ist das der Grund, warum Sie einen «Film im Plural» gedreht haben? Ja. Es gibt mehrere Situationen mit Einzelpersonen, die von verschiedenen Leben erzählen: Amin hat Frau und Kinder zurückgelassen, die er erst nach langen Perioden der Abwesenheit wiedersieht. Abdelaziz hat in Frankreich ein neues Leben angefangen, und seine Kinder aus einer früheren Verbindung in Marokko lassen ihn wissen, dass er doch mit seinen französischen Kindern in Frankreich bleiben soll. Hinzu kommen sexuelle Frustration und Not der Männer, deren Leben quasi auf die Arbeitskraft reduziert wird. Und es gibt Frauen und Kinder, die in ihrem Ursprungsland geblieben sind, und die Frauen, die man in Frankreich kennengelernt hat, und die Kinder, die dort geboren wurden.
Wie oft in Ihren Filmen beruht Ihr Drehbuch auf Fakten. Die Figuren werden über alltägliche Gesten beschrieben. Warum diese Erzählweise? Weil auf der Leinwand das Visuelle, also Körper, Gesten, Gesichter, Blicke ebenso viel ausdrücken wie die gesprochenen Worte. Psychologische Innenschau ist nicht die Domäne der Figuren in «Amin». Sie werden von elementaren Lebensnotwendigkeiten angetrieben, die ihnen dafür wenig Raum lassen. In Frankreich behält Amin seine Gedanken zurück, die sein Gesicht und seine Blicke manchmal ohne sein Wissen ausdrücken. Er lässt seinen Gefühlen nur in vertrauter Runde freien Lauf: im Heim mit seinen Freunden, beim Wiedersehen mit seinen Angehörigen im Senegal und nach und nach mit Gabrielle.
Amin mit seinen Kindern
Über die Botschaft des Films – Fortsetzung des Interviews mit dem Regisseur
Wie war die Zusammenarbeit am Drehbuch? Wir haben viel miteinander gesprochen. Wir haben Männer in französischen Heimen getroffen und Frauen, die allein in ihrem Ursprungsland zurückgeblieben sind. Ihre Einsamkeit, Entwurzelung und das Unbehagen der Männer haben Co-Drehbuchautoren Yasmina Nini-Faucon und Mustapha Kharmoudi in ihren Familien oder ihrer nächsten Umgebung selbst erlebt; durch meine Familiengeschichte zum Teil auch ich. Für uns war es entscheidend, diesen «geheimen und dumpfen Schmerz» unverstellt wiederzugeben und dabei Vereinfachungen oder Effekte zu vermeiden.
Die Frauen spielen im Film eine entscheidende Rolle. Vor allem jene von Amin: eine isolierte Frau, die den Schwiegereltern untersteht, sich aber auflehnt, die Arbeiten überwacht und Familienoberhaupt ist. Ein starkes und nuanciertes Bild der eigensinnigen und unabhängigen afrikanischen Frau, fernab aller Klischees. In dem Dorf, in dem wir gedreht haben, waren wir oft verblüfft über die Kraft, die diese Frauen in schwierigen Lebenslagen aufbringen. Marème N’Diaye, die Amins Frau spielt, lebt in Frankreich, stammt jedoch aus einem Dorf in dieser Gegend.
Die Inszenierung scheint die Szenen vorzeitig abzubrechen, als würden Sie immer vor dem Ende einer Szene schneiden, um elliptisch zu erzählen. So verleihen sie den Protagonisten ein Leben ausserhalb der Erzählung, lassen Raum für das Ungesagte, das Geschehen im Off. Ich glaube, es geht darum, die Figur nicht in etwas Festgefügtes oder deutlich Ausgesprochenes einzusperren, ihr ein Dasein zu lassen, das sich verkürzten oder vereinfachten Definitionen entzieht. Wie in der Wirklichkeit gibt die Figur bewusst oder unbewusst meist eine Seite von sich preis. Doch was man von ihr wahrnimmt, reicht nicht aus, um sie vollständig zu beschreiben. Ich glaube nicht, dass ich eine Sequenz vor ihrem «Ende» abbreche, sondern dass ich in der Drehbuch- oder der Schnittphase an ihrer Prägnanz gearbeitet habe. Ich versuche zu verhindern, dass sich beim Schreiben etwas einschleicht, das unnötig oder überflüssig ist oder die Figur einschränkt oder verkürzt, weil man zu viel sagen will.
Regie: Philippe Faucon, Produktion: 2018, Länge: 92 min, Verleih: Xenix