Ammonite
Mary (l.) und Charlotte kommen sich näher
England Mitte des 19. Jahrhunderts: Resigniert von der männlich-dominierten Wissenschaftswelt Londons, hat sich die einst gefeierte Paläontologin Mary Anning, im Film «Ammonite» dargestellt von Kate Winslet, in ein Provinznest an der Küste im Südwesten Englands zurückgezogen. Dort hält sie sich und ihre von Krankheit gezeichnete Mutter mühsam mit dem Verkauf von Fossilien an Touristen über Wasser. Und deshalb kann sie auch das lukrative Angebot von Roderick Murchison, eines wohlhabenden Londoner Kunden, nicht ausschlagen, der ihr seine schwermütige junge Ehefrau Charlotte, verkörpert von Saoirse Ronan, zur Erholung in Obhut geben will, um seine Europareise ungestört fortsetzen zu können. Mary begegnet ihrem ungewollten Gast zunächst kühl und abweisend, bis Charlotte, schwer erkrankt, von Mary volle Aufmerksamkeit verlangt. Parallel zu deren Genesung, gewinnt auch Mary, resigniert und verschlossen, langsam wieder Lebensfreude zurück, und ihre schroffe Fassade beginnt zu bröckeln. Aus den für beide Frauen unerwarteten Glücksgefühlen entwickeln sich allmählich Freundschaft und schliesslich Begierde, die alle gesellschaftlichen Konventionen ins Wanken bringt und den Lebensweg beider Frauen unwiderruflich verändert.
Die offiziell ausgeschlossene Forscherin
Ein wunderbarer Anfang ...
So präzise und vorsichtig, wie Mary Schicht für Schicht ihre an einem Strand im südwestenglischen Dorset, der sogenannten Jurassic Coast, gesammelten Steine abträgt, um die im Inneren verborgenen Fossilien freizulegen, so wächst Schritt für Schritt auch die Leidenschaft zwischen ihr und Charlotte. Mittels minimaler Mimik und sparsamer Gesten offenbart sich uns allein aus der Körpersprache der beiden Ausnahmeschauspielerinnen eine reiche, überbordende Gefühlswelt, die wohl bei vielen Zuschauer*innen noch lange nachhallen dürfte. Mit dieser betont leisen Handschrift gelingt es Francis Lee, einen überraschend modernen Befreiungsprozess auf die Leinwand zu zaubern, dass ich persönlich den Film nie als historisch, sondern als aktuell wahrgenommen habe. Seinen besonderen Reiz verdankt das puritanisch-viktorianische Sittengemälde nicht zuletzt den pittoresk-rauen Landschaftsbildern, die an das Werk von William Turner erinnern.
Die szenischen Annäherungen, im Minutentakt sozusagen, steigern sich zu einem filmischen Feuerwerk. Wunderbar, wie ein Bild dem andern, ein Satz dem andern antwortet: innere Bewegungen, erzeugt durch Kamera, Montage und Musik, übertragen sich auf Körper und Umwelt der beiden Frauen. Mit jeder Szene werden die Protagonistinnen lebendiger. Vielleicht haben Sie schon mal eine sich öffnende Pflanzenknospe, ein schlüpfendes Küken bestaunt oder vor einem Neugeborenen vor Staunen den Atem angehalten? Warum? Weil jedes Mal Leben entstand. In «Ammonite» nehmen wir an einem ähnlichen Ereignis, diesmal von zwei erwachsenen Menschen, teil: an der Geburt von Mary und Charlotte, am Akt des Geborenwerden. Vergleiche drängen sich auf:
So meinte wohl Erich Fromm Ähnliches, als er schrieb: «Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.» Platos Gleichnis des Kugelmenschen meint das Gleiche nochmals in einer andern Sprache. Danach heisst es, der Mensch bestand einmal aus zwei Halbkugeln. Der zweigeteilte Mensch litt unter der Trennung, jeder Teil sucht die andere Hälfte. Sie umschlangen sich in der Hoffnung, zur Einheit zusammenzuwachsen. Die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit manifestiert sich im erotischen Begehren, das auf Vereinigung abzielt. Und nochmals aus einem andern Hintergrund heraus schrieb wohl Martin Bubers: «Der Mensch wird im Du zum Ich.» Das alles hat Francis Lee in «Ammonite» in seinem Film «Ammonite» erzählt.ົ
Charlotte soll sich am Ufer erholen
... mit abruptem Ende
In den Tagen ihrer berühmten Entdeckungen suchte Mary eingeschränkt und engagiert nach Fossilien. Trotz der anfänglichen Distanz, der folgenden Intensität und der endlichen Leidenschaft bleibt Mary zutiefst eine Forscherin, was Charlotte nicht in ihre allmählich gewachsene Beziehung einbringen kann. In den Momenten absoluter Nähe ist es für sie eine kurze Zeit lang völlig egal, ob diese Beziehung in Anbetracht des historischen Rahmens und Charlottes Ehe möglich ist oder nicht. Doch dann werden diese Fragen existenziell und führen zu einem Schluss. Auch darüber dachten schon andere, so Martin Heidegger, wenn er schreibt: «Der Lebende ist vom Augenblick seiner Geburt an zum Tode verurteilt.» Er meint damit wohl, wenn ich den Satz auf den Film beziehe, an die Geburt der neuen Liebe der beiden Menschen, die nach viele Etappen des Blühens zum Absterben, zum Tode ihrer Beziehung führt. Entschieden und in die Welt gesetzt durch das Diktat des Mannes, der in einer anderen Kategorie spielt und selbstredend das Leben der Frau als frei entscheidende Person nicht zulassen kann. Wofür ein kurzer Brief von ihm aus London genügt: «Liebe Charlotte ich freue mich auf meine Frau. In Liebe, Roderick»
Roderick bewundert Marys Funde
... und verglichen mit Francis Lees erstem Spielfilm
2017 schuf der englische Regisseur Francis Lee seinen ersten Spielfilm «God' Own Country»: eine ähnlich sich entwickelnde Annäherung von zwei Menschen, des Schafhirten Johnny und seines Saisonarbeiters. Auch für sie gilt es, Grenzen zu überwinden, als Brite, als Rumäne, als Besitzer, als Taglöhner. Wie Mary lebt auch Johnny einsam. Er auf der abgelegenen Schaffarm seiner Familie im Norden Englands, sie in ihrem Heimatort Lyme Regis, wo schon ihr Vater wie sie gearbeitet hat. Johnnys kranker Vater und Marys vom Leben gezeichnete Grossmutter sprechen nur noch wenig. Nachdem sein Vater einen Schlaganfall erlitten hat, muss er sich um die Zukunft der Schafzucht kümmern; nachdem ihre Mutter verstorben ist, ist sie allein für ihr Haus verantwortlich. Als der junge Saisonarbeiter auf die Farm gekommen war, blieb Johnny zunächst misstrauisch und mürrisch; je mehr Zeit die beiden Männer miteinander bei der Arbeit verbringen, desto intensiver wird ihre Beziehung, aus flüchtigen Blicken und Gesten werden Berührungen, bis sie in der Abgeschiedenheit eines Camps in den Hochmooren das erste Mal miteinander Sex haben. Entwicklungen fast gleich bei ihr wie bei ihm. Was geschieht, vergleichbar mit dem Schluss in «Ammonite», den ich hier verschweigen möchte, in «God' Own Country», wenn der Taglöhner nach der Saison wieder in sein Land zurückkehrt? Oder was ändert sich, wenn er endgültig auf der Farm bleibt?
In beiden Filmen macht es Francis Lee seinen Zuschauer*innen nicht einfach, Sympathie für die Hauptfigur aufzubauen; er verlangt von uns Offenheit und Empathie. Im ersten Film geht es um junge Männer, die sich mitunter sogar mit roher Gewalt gegen ihr eigenes Empfindungen und das Versprechen eines erfüllten Daseins auflehnen; im zweiten sind es zwei Frauen, die im Innern selbst genauso kalt und schroff, respektive müde und abgestorben sind wie die karge Küstenlandschaft im Südwesten Englands, die vom Kameramann Stéphane Fontaine mit natürlichem Licht und graustichigen, auf den Himmel abgestimmten Farbtönen eingefangen wird.