Amour
Michael Haneke, Emmanuelle Riva, Jean-Louis Trintignant.
Liebe bis in den Tod: Michael Hanekes Spielfilm «Amour» mit Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant als Protagonisten stellt eine Frage, die immer brennender wird, und gibt eine Antwort, die von uns Stellungnahmen verlangt. Ein Meisterwerk!
In den 80er-Jahren fanden heisse Diskussionen über die Abtreibung statt, vereinzelt noch heute, obwohl zwischenzeitlich die Meinungen gemacht sind. Heute intensivieren sich die Diskussionen über Euthanasie, weil immer mehr (vor allem behinderte oder alte) Menschen Sterbehilfe verlangen. Soll der Sterbewillige, sollen seine Angehörigen den Zeitpunkt des Sterbens selber bestimmen? Fragen, auf welche die Gesellschaft noch keine Antwort hat. Zu diesem Thema erzählt der Film «Amour» des österreichischen Filmregisseurs Michael Haneke eine aufwühlende und bewegende, eine existenzielle Geschichte.
Kraftvoll auf den letzten Weg
«Was geschieht mit unserer Liebe, wenn wir gemeinsam alt werden?» So heisst das Grundthema des Films: Georges und Anne, beide um die 80, aber noch rüstig, haben ihr Leben miteinander gelebt. Ihre grosszügige Wohnung in Paris ist Spiegel einer interessanten, abwechslungsreichen und kulturell erfüllten Zweisamkeit, bestückt mit vergilbten Sedimenten, aus der Mode gekommenen Möbeln, staubigen Büchern, einer antiken Stereoanlage und einem Konzertflügel. Denn Anne war Musiklehrerin, Georges Musikprofessor.
Haneke beginnt, dem epischen Theater Brechts verpflichtet, mit dem Schluss und blendet dann zurück zum Anfang, womit anstelle einer «Krimispannung» der emotionale und intellektuelle Nachvollzug der Entwicklung zum Ende hin sich anbietet. Dieser macht klar, dass die Altersidylle der beiden zerstört wird, wie der Tod jedes Leben endet. In «Amour» beginnt es damit, wie Anne eines Nachts stocksteif im Bett sitzt und vor sich hin starrt. Georges macht sich Sorgen, doch sie beruhigt ihn. Anderntags essen beide harmonisch nebeneinander das Frühstück, als ihm auffällt, dass sie ins Leere starrt und nicht mehr ansprechbar ist. Er will Hilfe holen, da hört er Geräusche aus der Küche, sie ist wieder zum Leben erwacht und erklärt ihren Ehemann für verrückt. Doch der Arzt diagnostiziert bei ihr eine verstopfte Halsschlagader. Nach einem Schlaganfall, der Anne halbseitig lähmt, sieht sich Georges damit konfrontiert, seine geliebte Frau, einst intellektuelle Gesprächspartnerin und Lebensfreundin, auf ihrem letzten Weg begleiten zu müssen. Nach und nach wird das Apartment zum Hospiz, zu dem Freunde und Verwandte nur noch begrenzten Zutritt haben, selbst Annes Tochter Eva (Isabelle Huppert), mit der Georges immer feindseliger umgeht, je schlechter es Anne geht.
Bis der Tod euch scheidet!
Den Hochzeitswunsch «Bis der Tod euch scheidet!» hat wohl noch kein Regisseur so direkt und konsequent, so Anteil nehmend und liebend in ein filmisches Requiem verwandelt wie Michael Haneke in «Amour». Mit aller Kraft bemüht sich Georges, das erlöschende Leben für Anne so angenehm wie möglich zu machen und, ihren Wunsch erfüllend, menschenwürdig zu beenden. Vorerst hievt er sie, selbst schon etwas klapperig, in den Rollstuhl, wäscht sie, wechselt ihre Windeln, als sie das Bett nicht mehr verlassen kann. Denn Annes Kräfte und wachen Momente schwinden, und als Georges eines Tages versucht, ihr mit einer Schnabeltasse Wasser zuzuführen, stösst er an die Grenze seiner Liebe. Renitent und mit bockig verzerrtem Gesicht lehnt sie die Flüssigkeit ab. Das einzige Wort, das sie noch von sich gibt, ist «mal», es tut weh, ich mag es nicht mehr. Doch wie soll Georges mit diesem Todeswunsch umgehen? Kann er anders, als ihn seiner Geliebten erfüllen? Ist er es ihr nicht schuldig nach all den Jahren der Partnerschaft? Ist er nicht der Einzige, der diese Entscheidung treffen muss?
Es ist, wie es ist. Irgendwann endet jedes Leben. Wie man seinen Partner aus Jahrzehnten auf der letzten Etappe begleitet, daran zeigt sich letztlich Grösse der Liebe. Zu zweit, allein, bis in den Tod! Der Schlaganfall, der Anne von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall macht, hat auch das Leben von Georges auf den Kopf gestellt. Die wachsende Verzweiflung des Paares zeigt Haneke in langen, empathischen Einstellungen: Anteilnahme fordernd, eine Antwort abverlangend – auch von uns: Wie würde ich handeln? Wie möchte ich, dass mit mir gehandelt wird?
Emmanuelle Riva, Jean-Louis Trintignant: zwei Ikonen des französischen Films
«Amour» hätte wohl nur halb so viel Wucht, spielten nicht zwei Ikonen des französischen Kinos die Hauptrollen, die hier ein grossartiges Comeback feiern. Emmanuelle Riva erlebte ihren Durchbruch als verführerische Schönheit in Alain Resnais' «Hiroshima, mon amour» und ist heute als 85-Jährige eine würdevolle, attraktive Dame. Jean-Louis Trintignant wurde von Roger Vadim entdeckt, in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit nahezu hundert Filmen ein Star des französischen Kinos und gleicht heute mit seinen 81 Jahren Pablo Picasso in seinen letzten Jahren. Zusammen zeigen sie in den Figuren, die sie verkörpern, wie eine grosse Liebe sich wandeln kann, wenn für Anne das Ende naht und Georges dabei Hilfe anbietet. Riva und Trintignant dürften in ihren langen Karrieren kaum je ihre Rolle mit grösserer Intensität und Hingabe gespielt haben. Körperlich wie emotional gehen sie an die Grenzen dessen, was man gewöhnlich auf der Leinwand sieht, und verleihen «Amour» die Intimität eines Kammerspiels, die Intensität eines Dokumentarfilms und die Macht eines klassischen Dramas. Neben ihrem schauspielerischen Pas-de-deux bleiben jene geheimnisvollen Szenen unvergesslich, in denen eine Taube zum Fenster hereinfliegt und von Georges gefangen und später liebevoll wieder freigelassen wird.
Vom Analysieren zum Mitleiden
Michael Haneke hatte 2012 in Cannes für «Amour» die Goldene Palme erhalten. In sein privates Leben vorzudringen, war bisher fast unmöglich. In «Amour» jedoch thematisiert er eine persönliche Geschichte: Wie gehe ich mit dem Leiden eines Menschen um, den ich liebe? Eine Frage, die er immer mehr auch auf sich bezieht. Er ist siebzig geworden und seit dreissig Jahren verheiratet. Der fesselnde Film spielt im bürgerlichen Milieu, in dem er selbst als Sohn eines Schauspielerehepaares gross geworden ist: in einer typischen Pariser Wohnung aus dem 19. Jahrhundert, wie damals in Wien bei seinen Eltern. Noch nie hat der Filmemacher ein Drama mit so viel Menschlichkeit gedreht, wie dieses über Krankheit und den Freitod im Alter. «Amour» (2012) verzichtet auf den kühlen analysierenden Zugriff früherer Werke, mit dem er lange Zeit in die Abgründe der Menschen geschaut hat. Mit seinem neuesten Meisterwerk strahlt er Solidarität und Liebe aus, nimmt Anteil, leidet mit. Sein elfter Kinofilm ist zwar nicht weniger verstörend oder bewegend als «Bennys Video» (1992), «Funny Games» (1997) und «La pianiste» (2001). Dennoch ist er radikal in der Fragestellung und provokativ in der Lösung, jedoch erfüllt von einer berührenden Menschenliebe.