An Episode in the Life of an Iron Picker

Eine wahre Geschichte: Der vielfach ausgezeichnet bosnische Filmemacher Danis Tanoviċ liess eine wahre Geschichte packend und authentische von den Menschen spielen, die sie selbst erlebt haben.

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Nazif, Senada und eine Tochter

Der neue Film des bosnischen Regisseurs Danis Tanoviċ hat etwas Getriebenes und für uns Treibendes. Der Eisenpicker Nazif findet seine schwangere Frau zu Hause mit grossen Schmerzen. Der Arzt stellt fest, dass das Ungeborene tot ist und unverzüglich entfernt werden muss. Doch das kostet Geld. Woher aber das Geld nehmen? Sie haben keines. Nazif versucht alles, um seine Frau zu retten. Die Geschichte ist dem Regisseur in einer kleinen Zeitungsnotiz aufgefallen und hat ihn nicht mehr losgelassen. Er hat sie ausser Atem sozusagen in neun Tagen verfilmt, und schon nach wenigen Minuten packt auch uns im Kino die gleiche Atemlosigkeit.

Welch ein Unterschied zwischen dieser Spannung und dem Trill des üblichen Actionfilms! Hier geht es wirklich um Leben und Tod – und wir sind dabei. Einen Dokumentarfilm wollte Tanoviċ nicht drehen, das wäre ihm zu versachlicht; ein Spielfilm musste es sein, doch keiner mit falschen Emotionen. Und so entschied er sich für etwas Ungewöhnliches. Er liess die Geschichte, die sich in seiner Heimat, bei den Roma, den Unterprivilegierten am Rande Europas, ereignet hat, von den Menschen nachspielen, die sie erlebt haben. Einzig der Arzt, der die Frau nicht operieren wollte, war nicht bereit, seine Rolle nachzuspielen. Gerade weil der Film nicht dramatisiert, weder über- noch untertreibt, sondern mit der Kamera einfach hinschaut, ermöglicht er dem Publikum Einblicke in das Leben einer Familie in der Region von Tuzla, in Poljice, und im Krankenhaus von Sarajevo und echte Teilnahme.

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Auch das eigene kaputte Auto wird ausgeweidet, um mit dem Metall Geld zu bekommen.

Biografie und Oeuvre des Filmemachers

Danis Tanoviċ wurde 1969 in Zenica, Jugoslawien geboren. Nach einem Musikstudium begann er an der Filmakademie in Sarajevo zu studieren, musste dies aber bei Ausbruch des Bosnienkrieges abbrechen. Während des Krieges begleitete er die bosnische Armee mit der Kamera. Das Material, das er in dieser gefährlichen Mission mit seinen Kollegen filmte, war in Filmen und Nachrichtensendungen zu sehen. Anschliessend ging er nach Brüssel, um sein Filmstudium fortzusetzen. Sein Debütfilm «No Man’s Land» erhielt über 40 internationale Preise. Mitten im Bosnienkrieg gewann der Film 2001 den Preis für das beste Drehbuch in Cannes, den Oscar, den Golden Globe für den besten ausländischen Film und den Europäischen Filmpreis. Es folgten zwei Filme, die in den Schweizer Kinos nicht zu sehen waren: Sein englisch gesprochener Film «Triage» beschäftigt sich mit dem Thema Nachkriegstrauma. Sein französischer, «L’Enfer», aus dem Jahre 2005 basiert auf einem Skript des verstorbenen Co-Autors Krzystztof Kieslowski. Bei uns war erst wieder «Cirkus Colombia», zu sehen. Er spielt 1991, kurz vor Ausbrechen des Konfliktes in Bosnien und Herzegowina. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, die Weltordnung in Osteuropa im Auflösen begriffen und die alten Landesgrenzen beginnen sich zu verschieben. In Jugoslawien stehen erste demokratische Wahlen an und einzelne Teilrepubliken machen sich selbständig. Während einzelne Bewohner, aufgerüttelt von den Vorboten eines Bürgerkrieges, die Reise in den Westen antreten, holen andere ihre Waffen hervor, die Dritten zögern und harren aus.

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Eigentlich eine recht gesunde und heile Familie, nicht verelendet, sondern arm

Zum Himmel schreiende Armut …

Wenn wir uns diesen Film ansehen, kommen wir gewöhnlich aus einer schönen, wohlgeordneten, heilen Welt ins Kino: einer Welt des Luxus, des Überflusses, der Ordnung und des Friedens. Der Film «An Episode in the Life of an Iron Picker» reisst uns dann brutal hinein in eine andere Welt: eine Welt der Unordnung, des Chaos, der bitteren Armut und der Diskriminierung. Senada sollte heizen, doch es hat kein Holz, Nazif muss in den Wald, fällt dort einen Baum, zersägt ihn und spaltet ihn zu Kleinholz. Als die Familie für die Operation der Mutter Geld braucht, geht der Vater auf die Müllhalde und sucht unter dem Abfall immer neue Metallteile, um sie zu verkaufen. Während wir das sehen, hören und erleben, sind wir im angenehm wohligen Kinostuhl – und könnten heulen ob dieser Diskrepanz von Arm und Reich auf der Erde im 21. Jahrhundert.

… und selbstverständliche Solidarität

Was dem Film ein bisschen Trost und Versöhnung gibt, sind die Bilder der zwischenmenschlichen Beziehungen rund um diese Familie: ihre selbstverständliche Hilfsbereitschaft, das Für-einander-Dasein, ihre Solidarität. Wenn Nazifs Auto stillsteht, erhält er jenes vom Nachbarn. Wenn die Eltern ins Spital müssen, hüten die Nachbarn die Kinder. Wenn der Eisenpicker immer noch mehr Eisen abliefern muss, hilft ihm der Nachbar. Eine berührende, eine sozialistische, eine urchristliche Nächstenliebe herrscht in dieser Gemeinschaft, obwohl sie als Roma selber ausgestossen sind aus der übrigen Gesellschaft. Nicht zu übersehen in diesem Film auch die menschlichen und kulturellen Werte dieser Männer, Frauen und Kinder. Es sind liebenswürdige, stolze Menschen, welche arm, aber nicht verelendet sind.

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