Antier Noche

Porträt einer vergangenen Stadt: Der Dokumentarfilm «Antier Noche» des spanischen Regisseurs Alberto Martín Menacho vermittelt Einblicke und Einsichten in eine entschleunigte Zeit und in eine vergessene Landschaft zwischen Tradition und Fortschritt, die uns motivieren können, Ähnliches im Hier und Jetzt zu suchen und zu erleben. Ab 21. März im Kino
Antier Noche

Auf zur Hasenjagd

Die Protagonistinnen und Protagonisten des Debütfilms von Alberto Martín Menacho leben in einer Kleinstadt, deren Bevölkerung im letzten halben Jahrhundert  von über 5000 auf weniger als 2000 gesunken ist. Da viele junge Menschen den Ort verlassen und die älteren wegsterben, serbelt auch die Wirtschaft. Ein lebendiger Rest des Zusammenhalts bleibt, weil weiterhin Traditionen praktiziert werden; eine davon ist die Jagd auf Hasen mit Windhunden.

 

Vielleicht enthält der Film hundert, vielleicht fünfhundert Sequenzen, respektive Einstellungen, die unvermittelt beginnen und vieldeutig enden: Kurz- und Kürzestgeschichten, die uns zufallen, in die wir eintauchen, echte und berührende, dass man bei den meisten Figuren noch lange verweilen möchte. Sie betreffen uns, jede auf eine andere Art, weil sie nicht – wie meist im Kino – auf eine bestimmte, von der Regie vorgegebene Botschaft hin ausgewählt und ausgearbeitet sind. Der Film führt uns scheinbar zufällig, doch aussagestark und authentisch zu Szenen mit Jungen und Alten, Tieren und Landschaften, die wohl von jedem und jeder im Publikum anders zusammengesetzt werden.

 

Das Fazit vorweggenommen: «Antier Noche» des heute in Genf arbeitende Alberto Martín Menacho lebt von Bildern, Tönen und Situationen; aus kleinen und kleinsten Stücken des Lebens komponiert er seinen reifen Debütfilm über das Leben, das ganze Leben, geboren aus der Poesie.

 

Etwas von der Vielfalt der Wahrnehmungen wiedergeben sollen die folgenden fremden Kommentare und die Anmerkungen des Regisseurs.


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Juan mit Hund, schlafend

 

Emilie Bujès, Artistic Director Visions du Réel

«Juan Francisco ist zwölf Jahre alt und lebt in einem Dorf in Südspanien, umgeben von tausendjährigen Eichen und Sonnenkollektoren. Bei der Jagd mit Windhunden entdeckt er die enge Beziehung zwischen Mensch und Tier. Santi und Antonio sind Teil einer jugendlichen Modernität, die mit den ältesten Traditionen koexistiert. Pepa, eine junge Mutter, arbeitet als Saisonarbeiterin in einem Schlachthof. Das chorische Porträt dieser Menschen zeigt ein Land der Hasen und Esel, der Liebesgeschichten, der Feuer und der Feste.

Salvaléon, ein kleines Dorf der Extremadura, wo der Grossvater des Filmemachers geboren wurde, bietet dem Regisseur sowohl einen fruchtbaren filmischen Boden als auch eine Reihe von Figuren. Wie der Titel ist auch der Film räumlich und zeitlich irgendwo zwischen Tradition und Moderne, zwischen Eichenhainen und Tinder angesiedelt. Der Regisseur filmt eine Gruppe junger Menschen, mit denen er schon früher gearbeitet hat, und verwebt Realität und Fiktion, indem er mit ihnen Geschichten komponiert und ein Territorium aus Hasen, Windhunden, Sommerfeuern, Liebesgeschichten und Partys entwirft, das immer noch von festen Bindungen auch zwischen den Generationen getragen wird. Ein umwerfend anmutiger Erstlingsfilm.»

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Im Hain der Korkeichen

Der Regisseur Alberto Martín Menacho

«Antier noche» ist ein Ausdruck, den ich meine Grossmutter in meiner Kindheit sagen hörte. Er bezieht sich auf etwas, das vorgestern Nacht passiert ist, ein alter Ausdruck, der fast vollständig in Vergessenheit geraten ist.

Ich möchte primitive Elemente des Menschseins beobachten, die in der Zeit fortbestehen. Zwei dieser Prinzipien, beide eng mit der Geschichte der Menschheit verknüpft, sind die Jagd und die Wanderungsbewegungen. Die Jagd wird heute zwar nicht mehr zum Überleben betrieben, sondern als Sport, Hobby oder aus Leidenschaft. Dieser Bruch erinnert bereits an den Bruch zwischen der alten Welt, die verschwindet, und der modernen, die ihren Platz einnimmt.

Der Film entstand aus dem Wunsch, in einem vergessenen Landstrich zu drehen, den ich liebe und in dem eine Gruppe junger Menschen lebt, mit denen ich schon früher gearbeitet habe. Das Kino gab mir die Möglichkeit, wieder mit ihnen in Kontakt zu treten und sie noch besser kennenzulernen. Indem ich die Realität dieser Jugendlichen beobachtete und nach einer filmischen Umsetzung suchte, haben wir die Geschichten miteinander entwickelt. Was hat der Ort, an dem wir aufgewachsen sind, kulturell und historisch noch mit uns zu tun? Das war eine Frage im Hintergrund.

Meine Verbindung zu all dem beginnt mit meiner Familie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine Zeit, in der die Auswanderung in Spanien die einzige Lösung darstellte, um sich an eine Zeit anzupassen, die sich weiterentwickelt. Meine Familie musste ihre Heimat verlassen, um mit dem Tempo der westlichen Welt mithalten zu können. Mein Grossvater Francisco reiste zunächst nach Berlin und dann nach Barcelona, um auf dem Bau zu arbeiten. Schliesslich liess er sich mit seiner Familie in Madrid nieder, wo ich Jahre später auf die Welt kam.

In den Ferien besuchten wir unsere Heimatstadt, einen kleinen Ort im Südwesten der Iberischen Halbinsel, in dem meine Mutter und meine Grosseltern geboren wurden. Ich kam in Kontakt mit den Menschen, der Landschaft und ihren Tieren. Diese habe ich nie abgebrochen. Salvaleón ist seitdem zum Ankerpunkt meiner filmischen Arbeit geworden. Ich habe die richtige Distanz, um über diesen Ort zu berichten: Ich stamme nicht von dort, kenne aber die Gegend und ihre Menschen sehr gut.

«Antier Noche» behandelt universelle Themen auf lokaler Ebene und verbindet sie mit den Herausforderungen der Moderne. Es ist eine soziologische, kulturhistorische Geschichte in einem ländlichen Kontext. Es ist ein Film über die Liebe, die Einsamkeit, die Kindheit und die Schönheit der Jugend. Ich schlage eine Begegnung und einen Dialog mit der Vergangenheit mit ihren Traditionen und Ritualen vor, um über die Zukunft nachzudenken, welche die jungen Menschen in diesen ländlichen Gebieten aufbauen wollen. Ist es notwendig, unsere gefrässige Gegenwart zu akzeptieren, oder müssen wir uns neu erfinden? Das die Herausforderung.»

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Mutter und Tochter

Die Jury des Max Ophüls Preises

«Die Sommerhitze liegt schwer über der Extremadura im Südwesten von Spanien. Umgeben von tausendjährigen Eichen und zahllosen Sonnenkollektoren streunt Juan durch leere Wirtschaftsgebäude und schiesst auf Büchsen. Santi träumt von einer Karriere als Musikerin und nimmt ihren ersten Track auf. Antonio kümmert sich um seine Tiere. Und Pepa arbeitet als Saisonarbeiterin in einem Schlachthof. Ein Porträt über vier junge Leben in einem verlassenen Landstrich, der die Grenze zur Fiktion immer wieder überschreitet.»

Regie: Alberto Martín Menacho, Länge: 106 min, Produktion: 2023, Verleih: Filmbringer