Apenas el sol

Eine bedrohte Kultur: Um die Kultur der paraguayischen Indigenen zu bewahren und die Erinnerung an die verlorene Heimat zu rekonstruieren, schuf Arami Ullón mit «Apenas el sol» einen menschenfreundlichen und aufrüttelnden Dokumentarfilm, der weit über dieses Land hinaus Gültigkeit hat.
Apenas el sol

Mateo im Gespräch mit einer Nachbarin

Unermüdlich durchquert der indigene Ayoreo Mateo Sobode Chiqueno mit seinem alten Kassettenrecorder die karge Landschaft des paraguayischen Chaco, einer Region im Westen des Landes. Nach der gewaltsamen Vertreibung aus dem Trockenwald lebt er mit anderen umgesiedelten Ayoreo in einer Zwischenwelt ohne Perspektive. Während er Geschichten, Lieder und Zeugnisse seines Volkes aufzeichnet, kommt in ihm der Wunsch, ein letztes Mal in seine Heimat zurückzukehren.

Die 1978 in Asunción geborene, heute in der Schweiz und Paraguay lebende Filmemacherin Arami Ullón kehrt nach ihrem poetischen und persönlichen Dokumentarfilm «El tiempo nublado» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/def/el-tiempo-nublado) mit einem neuen Filmprojekt nach Südamerika zurück. Entstanden ist «Apenas el sol» (Nichts als die Sonne), ein Film, der etwas auslösen könnte.

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Ein Lied wird aufgenommen

Anmerkungen der Regisseurin Arami Ullón

 

Ich habe Paraguay vor fast 13 Jahren verlassen. Vor 8 Jahren bin ich nach Basel gezogen. Hier fand ich in der Zeitung einen Artikel über die Existenz von Menschen, die in der paraguayischen Chaco-Region ohne jeglichen Kontakt zur Zivilisation leben. Dem Artikel zufolge wurden die meisten von ihnen seit den 1969ern systematisch vertrieben, doch einzelne Völker leben bis heute frei und ohne Kontakt zur weissen Welt. Der Bericht konfrontierte mich mit meinem eigenen Unwissen. Unkenntnis über die Realitäten, die jenes Paraguay ausmachen, das ich hinter mir gelassen hatte. Dies war für mich der Anstoss, weiter zu recherchieren.

1940 begann der paraguayische Staat, die Guarani als vereinigendes Symbol der Indigenen zu verwenden, das mit einer romantischen und nationalistischen Vision aufgeladen war. Ziel war es, allen Paraguayer*innen einen einzigartigen und gemeinsamen Ursprung zu geben. Das Resultat war eine vereinfachende wenn nicht gar falsche Darstellung der Realität. Sie ignorierte die tief greifenden Unterschiede zwischen den neunzehn indigenen Völkern, die das paraguayische Territorium bewohnen. Die unterschiedlichen Sprachen, die sie sprechen, ebenso wie die fünf verschiedenen Sprachfamilien, denen sie angehören. Der Staat reduzierte die Geschichte, um Paraguay als eine eindimensionale und homogene Einheit darzustellen.

Als ich anfing, die Situation der Indigenen besser zu verstehen, löste das in mir eine Reihe von Fragen über die Bedeutung von Identität und Zugehörigkeit aus. Ich wollte versuchen, über das hinauszublicken, was mir als offizielle Geschichte erzählt worden war. Dieser Film will eine Situation sichtbar machen, die von Behörden und Machthabern bewusst ignoriert wird. Indem wir uns um eine würdige und ehrliche Darstellung der kontaktierten Ayoreo und über ihre Erzählungen auch der unkontaktierten, daher nur imaginierten Indigenen bemühen, wollen wir sie als das zeigen, was sie sind: vollwertige Menschen, die über Deutungshoheit, eigne Worte und Taten und über einzigartiges Wissen verfügen. Wir wollen dazu beitragen, dass sie nicht länger nur als Opfer sozialer Ausgrenzung wahrgenommen werden.

Jede Kultur, die ausgelöscht wird, bedeutet den Verlust einer ganzen Sinn- und Bedeutungswelt. Eine Sprache, eine Ästhetik, eine Medizin, eine Philosophie, eine Erotik gehen verloren, wir verlieren also eine Art, die Wirklichkeit zu sehen, zu fühlen und zu erklären. Der individuelle, aber auch kollektive Blick wird zudem auf die Gesetze gelenkt, die indigenen Völkern bereits heute auf nationaler wie internationaler Ebene grundlegende Menschenrechte zusichern. Gesetze, die in der Realität leider allzu oft ignoriert werden.

Die Frage ist aber nicht nur, was der Film für die Ayoreo und im weiteren Sinne für die indigenen Völker überall auf der Welt bewirken kann, sondern auch, was er dem hiesigen Publikum bietet. Der Verweis auf andere Lebensrealitäten, das Aufzeigen der notwendigen Vielfalt und des Reichtums der angestammten Wurzeln der Welt kann einerseits Besorgnis wecken, anderseits aber auch neue Türen öffnen. Denjenigen, die nach Alternativen zur alles homogenisierenden Kultur unserer Zeit suchen, kann der Film Inspiration und Werkzeug sein. Ich versuche nicht nur, die Situation der Ayoreo aufzuzeigen, sondern durch ihr Universum und dessen kinematografische Aufzeichnung nähere Elemente und poetischen Formen zu vermitteln, die das Andersein in einem tiefen Respekt für jede Kultur fördern.

Lia Colombino, Ticio Escobar und Miguel Angel Alarcón

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Tona, die Frau von Mateo

Gehört ...


Was Ayoreo Mateo Sobode Chiqueno im Dorf und in der Umgebung mit dem Aufnahmegerät leistet, hiesse bei uns ethnologische Forschung. Er macht es mit den einfachsten Mitteln mit Neugier und Empathie. Der Film darüber, den Arami Ullón und Gabriel Lobos an der Kamera geschaffen haben, zeichnet sich durch Authentizität und Mitmenschlichkeit aus. «Apenas el sol» ist ein ausserordentliches und beeindruckendes Dokument eines vertriebenen Volkes auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft, exemplarisch für ähnliche Prozesse irgendwo auf der Welt. – Nachfolgend ein paar ausgewählte Aussagen von Frauen und Männern:  

«Die erste Begegnung mit den Weissen war furchteinflössend. Ich war mit meiner Frau unterwegs. Nach einer Kurve lag ein gerader Weg vor uns. Plötzlich tauchten Männer auf Pferden auf. Ich sagte: Verstecken wir uns. Wir sahen uns danach nie wieder. Das Schicksal trennte uns.»

«Die weissen Missionare vertrieben uns aus unserem Paradies. Ich fragte mich, welche Sünde wir begangen haben.»

«Die Missionare brachten uns in diese unwirtlichen, von Weissen beherrschten Gebiete und blieben zwei Jahre bei uns, dann liessen sie uns zurück. Danach kamen die Rinderzüchter und übernahmen unser Territorium, sie teilten es auf und verkauften es. Sie nahmen uns alles weg.»

«Wir glauben an den Chungupeejna-Vogel, nach den Lehren der Schamanen. Dieser Glaube wird verschwinden. Und wenn wir arrogant sind, wird Gott uns verschwinden lassen. Auch die Sonne wird verschwinden. Unsere Eltern beteten zur Sonne. Sie kletterten auf Bäume zu ihr hoch, damit die Sonne sie besser hört. Sie nannten sie Yoquimamito: ein höheres, grosszügiges Wesen, das uns von oben beschützt.»

Mateo spricht mit seiner Frau Tona: «Als unsere Gemeinde das Jubiläum feierte, nahm ich deine Erinnerungen auf. Erinnerst du dich? Ja. Ich hatte damals nur noch wenig Material, möchte aber noch weitere Aufnahmen von deiner Stimme machen. Wie war unsere erste Begegnung für dich? Hast du dich gleich in mich verliebt? Wie hast du reagiert, als du mich gesehen hast? Es war für uns beide Liebe auf den ersten Blick. Ich habe dich nicht abgewiesen. So war das. So ist es passiert.»


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Die Kassetten, ein wohlgehüteter Schatz

Gesehen ...

Die Porträts der interviewten Männer und Frauen sind so gestaltet, dass sie auch uns eine Beziehung mit ihnen ermöglichen.

Wunderbare Tableaus, den klassischen Stilleben vergleichbar, mit verendeten, verdursteten Tieren und mit Landschaften, in denen der Wind die Strassen leer fegt. Sie stehen für Sterben und Tod.

Schlussbild: ein Steppenbrand, wohl ein Rodungsbrand, erfüllt alles mit Gefühlen der Gewalt und des Endes.

Schlusswort: «Wir Ayoreo in Gefangenschaft sind wie ein gefällter Baum, der langsam vertrocknet und stirbt. Ja wir sind wie ein gefällter Baum.»

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Eine Glocke ruft zum christlichen Gottesdienst

... und nachgefragt

Beim Überdenken der Situation der Ayoreo in Paraguay zeigt sich eine Verwandtschaft mit dem Prozess bei der Kolonialisierung Palästinas durch Israel, auch anderer Länder. Das Nachfolgende ist bloss angedacht, verlangt eine Vertiefung. Auch das grosse Thema der Entwicklung von Generation zu Generation könnte in einem weiter führenden Diskurs vertieft werden. Und schliesslich habe ich die Bedeutung des Prozesses bei den Ayoreo für uns Westler völlig weggelassen.

Ihr wertvolles Land wird den Ayoreo genommen und gegen wertloses eingetauscht.

Indem ihnen ihre Namen genommen werden, nimmt man ihnen ihre Identität.

Mit den Besetzern kamen auch Viren-Krankheiten ins Land und töteten viele.

Mit dem Christentum kamen Sünde, Schuld und die Vertröstung aufs Jenseits in ihr Bewusstsein.

Paraguay zahlt den Ayoreo pro Familie zweimonatlich 65 Dollar; der Mindestlohn im Land ist monatlich 300 Dollar pro Person.

Regie: Arami Ullóns, Produktion: 2021, Länge: 75 min, Verleih: Cineworx