Apples Day
Äpfel: Lebensmittel und Symbol
Vögel zwitschern, Morteza und sein Sohn ernten in einem ländlichen Obstgarten Äpfel. Sobald sein Pick-up vollgeladen ist, brechen sie nach Teheran auf, wo sie die Quartiere abklappern. Am Abend stellen sie sich an befahrene Landstrassen und betreiben ihren Handel bis spät in die Nacht weiter, bevor sie zurück zur Familie fahren, in einen heruntergekommenen Vorort fernab seiner Heimat in den Bergen. In dieser Welt sind der junge Saeed und sein kleiner Bruder Mahdi zu Hause. Wenn sie nicht gerade im Haushalt oder bei der Arbeit mit anpacken, besuchen die Buben eine streng geführte Schule. Während der Vater den Unterhalt mit dem Verkauf von Äpfeln bestreitet, verdient Mutter Mahboubeh mit dem Waschen und Färben alter Kleider Geld. Sie arbeiten hart, in der Hoffnung, ihren Söhnen einst eine bessere Zukunft zu ermöglichen. In ihrer kleinen Wohnung wird gerne mal getanzt, und wenn das magere Einkommen es erlaubt, gönnen sie sich gelegentlich eine Mahlzeit in einem einfachen Restaurant. Als die Lehrerin Mahdi am ersten Schultag bittet, einen Korb Äpfel für die Klasse mitzubringen, zögert er keine Sekunde: Angesichts der Beschäftigung seines Vaters scheint das ein Leichtes! Jeder Schüler braucht einen Apfel für den Tag, an dem der Buchstabe A des Farsi-Alphabets gelernt wird, mit dem das Wort Apfel beginnt. Als verantwortungsbewusster grosser Bruder übernimmt Saeed die Aufgabe, die nötige Menge Äpfel zu besorgen.
Doch als eines Tages der Pic-up des Vaters gestohlen wird, wird auch ihr Leben auf den Kopf gestellt, werden die kostbaren Früchte plötzlich knapp. Jetzt jagt ein Ereignis das nächste. Geht es für die Familie einen Schritt voran, folgen zwei zurück, bei der Polizei, in der Schule und in der Nachbarschaft. Und so wie Saeed rennt, um Apfel zu finden, sind alle am Rennen, um durchzukommen und zu überleben.
Die Schule: Ort der Heiterkeit und des Unrechts
Director's Statement
«The Apple Day» beschreibt das wahre Leben armer Menschen in den Vororten von Teheran, die versuchen, trotz Wirtschaftskrise zu überleben und ihre Situation zu verbessern. Es ist die Geschichte einer Familie, die in die Stadt gezogen ist, weil sie von einem besseren Leben träumte. Doch die Hoffnung wird zu einer Fata Morgana, und sie sehnen sich zurück in ihren Heimatort.
Das iranische Volk leidet derzeit unter den internationalen Sanktionen und einer ineffektiven Regierung. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise hat sich in vielerlei Hinsicht auf Kinder, die Jugendlichen und ihre Familien ausgewirkt. In der Gesellschaft, in der unsere Familie lebt, gelten Diebstahl und Korruption, unabhängig von der sozioökonomischen Schicht, nicht mehr als unmoralisch. In dieser angespannten Lage, in der der moralische Zusammenbruch der Gesellschaft aufgrund von wirtschaftlichem, sozialem und politischem Druck unmittelbar bevorsteht, versucht die Familie alles, um sich selbst vor einem solchen Verfall zu schützen. Aber ist das überhaupt möglich?
Im Film versuche ich, auf die düstere Zukunft aufmerksam zu machen, die der Iran bald erleben könnte. Die Kinder wachsen in einer Umgebung auf, in der Skrupellosigkeit zur Norm geworden ist. Diese Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit gegenüber der Situation der Kinder und ihrer oft sehr armen Familien, die heute einen grossen Teil der iranischen Gesellschaft ausmachen, wird sich in naher Zukunft sicherlich rächen.
Obwohl die Geschichte im Iran spielt, glaube ich, dass sie auch auf andere Gesellschaften übertragbar ist, da sich in der Post-Covid-Ära alle Länder mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sehen.
Die Buben in mütterlicher Obhut
Vorgeschichte und Hintergrund
– aus einem Interview mit Mahmoud Ghaffari
Was gab Ihnen den Impuls zum Film «The Apple Day»? Als Folge der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme in unserem Land machen wir mehr und mehr Filme, die darauf Bezug nehmen und die wir als Gesellschaftsfilme bezeichnen. Filmschaffende versuchen, die Situation der Menschen zu schildern, können aber aufgrund der strengen Zensur nicht das ganze Ausmass sichtbar machen. Sie streifen diese Aspekte nur oberflächlich oder entscheiden sich oft für einen düsteren und gewalttätigen Film mit Figuren, die unter Druck stehen und ständig im Kampfmodus sind. Auf die Dauer ist das für das Publikum ermüdend. Ich suchte also einen Weg, in meinem Film die aktuelle Situation aufzuzeigen, ohne die Zensur auf den Plan zu rufen oder in Bitterkeit zu verfallen. Ich überlegte mir, dass das mit einem Kind in der Hauptrolle funktionieren könnte, und so kam mir die Idee zu «The Apple Day». Dabei ist mir klar geworden, wie viele Filmemacher sich in verschiedenen Phasen der iranischen Geschichte darauf verlegt haben, Filme mit Kindern zu drehen, um den Druck der Zensur zu umgehen. Es ist unbelasteter, wenn man die Perspektive von Kindern einnimmt.
Vater, Mutter, Kinder
Ein weltweites Menschenbild
– aus einem Interview mit dem Regisseur
Der Bezug zum Neorealismus und De Sicas «Ladri di biciclette» liegt nahe. Der italienische Neorealismus bleibt eine starke Referenz für unabhängige Filmschaffende in Ländern, die von Armut, Krieg, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unruhen geplagt sind. «Ladri di biciclette» ist da zweifellos eine Art Bibel. Meiner Ansicht nach haben wir noch keine besseren Methoden gefunden, um den Schmerz ärmerer Gesellschaftsschichten zum Ausdruck zu bringen. In der Darstellung sind wir vielleicht etwas moderner geworden, nicht zuletzt durch den Einfluss der Gebrüder Dardenne, aber die Quelle ist dieselbe: Der Neorealismus funktioniert immer noch.
Wie schätzen Sie die Zukunft der ärmeren Gesellschaftsschichten im Iran ein? Sie werden im Stich gelassen. Die Oberschicht und die Regierung übernehmen keinerlei Verantwortung. Die Armen schlagen sich mit allen erdenklichen Mitteln durch. Die wichtigste Frage ist für sie eine rechtliche: Da sich das Regierungssystem jeden Tag ein bisschen mehr von Recht und Gerechtigkeit verabschiedet, müssen sie die Regeln selbst neu definieren, was eine moralische Krise und Unsicherheiten mit sich bringt. Mit anderen Worten: - Viele landen wegen einer Ungerechtigkeit in der Armut und beobachten gleichzeitig, wie gewisse Menschen ein besseres Leben führen, indem sie das Land, in Missachtung des Gesetzes, seines Öls und Geldes berauben. Also erscheint es ihnen nur logisch, dass ihnen auch nur noch das Stehlen bleibt. Ich glaube, dass die iranische Gesellschaft auf einen moralischen Zerfall zusteuert und Stehlen nicht mehr als unmoralisch gilt.
Wunschtraum oder Illusion?
Vom Neorealismo in Italien zum neuen Realismus im Iran
Schauen wir auf das bereits Angesprochene: In «Ladri di biciclette» von Vittorio De Sica entwickelt sich die Geschichte wegen des Diebstahls eines Fahrrades zu einem dramatischen Höhepunkt, analog in «The Apple Day» von Mahmoud Ghaffari der Diebstahl eines Pic-up. Beide Filme strahlen eine besondere Menschlichkeit aus: eine langmütige, geduldige, anteilnehmende, in langen Einstellungen und mit langsamem Rhythmus gezeigt und dem menschlichen Herzschlag folgend.
Zum Umfeld von De Sica gehören Filme wie «Riso amaro» von Giuseppe De Santis, «Paisà» von Roberto Rossellini, «La strada» von Federico Fellini, zu jenem von Ghaffari die Fraktion des «erwachsenen Kinderfilms iranischen Zuschnitts» wie «Wo ist das Haus meines Freundes?» von Abbas Kiarostami, «Der weisse Ballon» von Jafar Panahi, «Die Kinder des Himmels» von Majid Majidi. So erlebe ich es als schön und tröstlich, dass sich immer wieder, einmal in diesem Land, dann in einem andern, Menschen für Menschen einsetzen, dies in Filmen festhalten und diese besondere Menschlichkeit weiterverbreiten. «Es kommt alles gut!» Das der letzte Satz des Films, gesprochen von Mahboubeh, der Ehefrau und Mutter, beim gemeinsamen Essen der Familie in einem Restaurant: zuversichtlich, glaubend, hoffend und heiter, doch unermüdlich den neuen Umständen die Stirn bietend.