Arme Seelen

Der Dokumentarfilm «Arme Seelen» von Edwin Beeler bereist mystische Landschaften der Zentralschweiz, wo Alteingesessene, aufgewachsen im Selbstverständnis einer katholisch geprägten Welt, noch sagenhafte Geschichten von den «armen Seelen» erzählen, von selbst erlebten, rätselhaften Begegnungen mit Verstorbenen und von mysteriösen Vorfällen auf ihrer Alp.

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Vielleicht ist es wahr, dass der Mensch nach seinem Tod weiterlebt und über sein Erdenleben Rechenschaft abgeben muss. Vielleicht ist es Einbildung oder Aberglaube. Wie auch immer: Der Glaube an ein Leben nach dem Tod und der tägliche Umgang mit der Geisterwelt gehörten über Jahrhunderte in unseren Breitengraden für die meisten Menschen zur kulturellen Identität.

Der Film lässt alle Fragen, die auftauchen können, offen. Wir erhalten keine Antworten und noch viel weniger die Antwort, sondern haben unsere persönlichen Antworten zu suchen. Zudem geht es nicht um irgendwelche belanglose Antworten, sondern wesentliche Antworten auf wesentliche Fragen unserer Existenz. Wenn der Film uns dazu veranlasst, hat er wohl sein Ziel erreicht.

Von Ängsten, rätselhaften Erscheinungen und heiligen Messen

Eine Entlebucher Bäuerin etwa erzählt, wie sie jeweils fürchterliche Angst gehabt habe, wenn sie kurz vor Mitternacht beim «Chappeli» ein geisterhaftes Wesen gesehen habe. Ein schwarz gekleideter Mann sei dort gewesen. Sie habe dann einen Kapuziner um Rat gefragt, und der habe ihr gesagt: «Hab keine Angst, spricht nicht mit ihm, das ist eine arme Seele, die herumwandern muss. Sie tut dir nichts zu Leide, bete etwas und lauf weg.»

Aus dem Isenthal berichtet ein Älpler von rätselhaften Geschichten, die er auf der Alp erlebt habe, von Tieren, die sich mysteriös verhalten hätten, von Jagdfrevel oder vom «Grissjuni», einer armen Seele, die umhergehen müsse. Diese habe zu Lebzeiten vielen Leuten zu Leid gewerkt. Auch der «Dräckpätscher» sei ein Geist, der sich heute noch bemerkbar mache und seinerzeit ein Mädchen an der Futterkrippe fast erdrückt habe.

Und schliesslich berichtet ein Priester, dass in seiner Kindheit die armen Seelen wie Silhouetten vor ihm erschienen seien und dass ihm einmal sogar eine Gestalt ihre Hand auf seine Hände gelegt habe. Die Hand jener Gestalt sei eiskalt gewesen, und er habe sich sehr gefürchtet. Als Erwachsener habe er die armen Seelen nicht mehr gesehen, doch spüre er manchmal noch ihre Anwesenheit, dann lese er für sie eine Messe und hätte dann Ruhe.

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Edwin Beelers persönlicher Zugang zu den «Armen Seelen»

Da ich selbst hin und her gerissen bin zwischen Ablehnung und Annahme, Glauben und Skepsis, und da ich in den Rückblenden in Beelers Vergangenheit da und dort auch in meine Vergangenheit zurück blende, gebe ich im Folgenden das (leicht bearbeitete) Wort dem Filmemacher:

«Die Welt, welche mein Film beschreibt, war ein Teil meiner Kindheit: die Welt der armen Seelen und Totengeister. Inzwischen ist diese Welt aus dem öffentlichen Bewusstsein fast völlig verschwunden. Sie existiert nur noch in Randzonen der Innerschweiz, in sagenhaften Erzählungen von Menschen vor allem der älteren Generation.

In den schlaflosen Nächten meiner Kindheit wurde ich verfolgt von katholischen Leidens- und Folter-Bildern von blutüberströmten, verzückt zum Himmel blickenden Heiligen, Wundmalen, Leichnamen und Herzen, die von kleinen Schwertern durchbohrt waren und aus denen Flammen züngelten.

«Gäll, du dänksch de au a die arme Seele», erinnerte mich jeweils meine Grossmutter.

Im Estrich meiner Grosseltern trieb ich mich gerne herum. Eines Tages fand ich dort eine Schublade, voll gestopft mit «Leidhelgen», Erinnerungsbilder von Verstorbenen.

Nachts fürchtete ich mich. Gestalten tauchten vor mir auf. Im Halbdunkel sah ich den geschundenen Leib Jesu am Kreuz. Draussen rauschte der Dorfbachwasserfall, vom Fenster her warf der Strahl des Scheinwerfers vorbeifahrender Autos unheimliche Schattenbilder auf die vergilbten Tapeten. Ich dachte, die graue Silhouette meiner verstorbenen Urgrossmutter tauche vor mir auf, deren Gesicht ich nur von ihrem Totenbildchen her kannte. Die Wohnstube meiner Grosseltern war ausstaffiert mit Kruzifixen, Bildern des Dornen umwundenen Herzens Jesu, des leidenden Herzens Marias und von gemarterten Heiligen.

Draussen fuhr der von Pferden gezogene Leichenwagen mit Sarg, Kränzen und Blumenschmuck Richtung Friedhofskapelle. Der Lebensrhythmus meiner Kindheit war eingebunden in den natürlichen Lauf des Kirchenjahres, des Andenkens an die Verstorbenen und des Brauchtums.

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Mit diesen Mythen bin ich aufgewachsen. In meiner Kindheit dachte ich in Bildern, lebte mit der Kraft der Imagination. Das Irrationale war Realität. In der Adoleszenz stellte ich das alles in Frage, und später als «Studierter» wollte ich mich in der akademischen Welt der Intellektuellen nicht lächerlich machen, orientierte mich am analytischen Denken, an der kritischen Vernunft. Mit zunehmendem Alter aber holen mich die Ur-Bilder meiner Kindheit wieder ein, als würde mein Leben zwischen Geburt und Tod keine lineare, sondern eine spiral- oder kreisförmige Bewegung durchlaufen. Dieser religiös geprägten, sinnlichen Welt und ihren Geschichten kann ich nicht entkommen. Mit ihren Bildern und ihrer Musikalität zieht sie mich an. Wo sie Drohgebärden zeigt und auf autoritäre Macht pocht, stösst sie mich ab. Trotzdem ist sie in ihrer Vielfalt Teil meiner persönlichen und kulturellen Identität. Es ist, als hätten sich vergessene Filme aus jener Zeit während meiner Recherchen wieder in mein Bewusstsein zurückgemeldet. Die eigene Herkunft lässt sich nicht abschütteln. Ich wohne immer im Altbau meiner ersten Lebensjahre, vielleicht gar in einem Spukschloss zusammen mit Jenseitigen, auch wenn ich mir vormache, in einem neuen, hochmodernen Gegenwartsgebäude zu leben.

Ich behaupte, dass jeder Mensch, auch wenn er vorgibt, rein rational zu denken oder Atheist zu sein, insgeheim darüber nachdenkt, ob nach dem Tode nicht doch noch «etwas» sein könnte. Aber kaum jemand gibt es zu. Die so genannte kritische Vernunft hat die Mythen, das Animistische, das Magische und damit die blosse Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod beziehungsweise das blosse Nachdenken darüber mit einem Tabu belegt. Was nicht sein darf, ist nicht. Der Rationalist wähnt, alles über das Erdenleben zu wissen. Alles Erdenkliche sei auf biochemische und neurologische Prozesse zurückzuführen. Vermutlich ist uns die wirkliche Ausdehnung des Lebens völlig unbekannt. Vielleicht gibt es jenseits unserer Begriffsvorstellung von Raum und Zeit Realitäten, die sich unvoreingenommen geschärften Sinnen gelegentlich bemerkbar machen können.

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Der Film ist eine zum grossen Teil ethnographische Reise in bestimmte Gebiete der Innerschweiz, wo es noch letzte Reste einer Erzähltradition gibt, die tief in der Welt von Sagen und Brauchtum der katholischen Mentalität und in Dimensionen des Bewusstseins wurzelt, die bei den meisten verschüttet sind. Über die real existierende Welt der Geister und armen Seelen bestand einst ein gesellschaftlicher Konsens. Erst die Moderne spricht von Schein, Projektion, Einbildung oder Geisteskrankheit. Situationen, in denen wir von unserer nüchternen Vernunftdogmatik im Stich gelassen werden, irritieren. Die armen Seelen, unsere verstorbenen Angehörigen und Freunde, ermahnen an unseren eigenen, unweigerlich bevorstehenden Tod. Der ursprüngliche Ahnenkult hat sich im Laufe der Jahrhunderte zur kirchlichen Gedächtnisfeier für die Verstorbenen gewandelt. Requiem, Psalter, Begräbnis, Gedächtniszeiten für Verstorbene und dergleichen sorgen für das Seelenheil und schützen Haus, Vieh und Alpen. Die Kultur unserer christlich geprägten Gesellschaft verändert sich. Der soziale Rahmen, der die Erinnerungen an diese Geschichten und Traditionen schafft, zerbröselt.

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Im Laufe der Recherchen habe ich einige Persönlichkeiten mit entsprechenden Wahrnehmungen und gelebter Erzähltradition ausfindig gemacht und besucht. Die meisten von ihnen sind rund achtzig Jahre alt oder gehen auf die Neunzig zu. Deshalb verstehe ich das Filmprojekt auch als Dokument einer archaischen Welt und einer Tradition des Erzählens, wie es sie bald nicht mehr geben wird.

www.arme-seelen.ch

www.calypsofilm.ch