As I Open My Eyes
Farah, im Zentrum der Konflikte
Sommer 2010. Farah hat gerade das Abitur abgeschlossen. Die Familie feiert und erwartet, das Kind werde Medizin studieren. Alle, ausser sie, denn ihre Leidenschaft gilt der Musik, sie singt in einer Rockband, schreibt kritische Songtexte. Vorerst aber will sie vor allem leben, atmen und ausbrechen. Sie geht aus, probt mit ihrer Band für erste Auftritte, fängt mit Borhène, dem Gitarristen, eine Liebesbeziehung an. Das alles tut sie mit dem Schwung und der Energie der Jugend, was Hayet, ihre Mutter, bis zu einem gewissen Grad toleriert, aber zunehmend mit Argwohn beobachtet. Sie versucht, Farah im Zaun zu halten, während der Vater auswärts arbeitet, als Unangepasster in die Provinz versetzt.
Die junge Frau ist kaum zu halten, so wenig wie ihre Generation als Ganze, die Ben Alis Geheimpolizei immer weniger erträgt. Genau diese beginnt sich nun auch für die Band zu interessieren, die sich anscheinend zu viele Freiheiten rausnimmt. Konzerte werden verboten, und ein ehemaliger Studienfreund der Mutter warnt sie, Farah sei in Gefahr. In der Folge soll sie beim Vater in Sicherheit gebracht werden und nach Gafsa in die Provinz reisen, doch als sie auf dem Bahnhof ein Sammeltaxi nehmen will, ist sie plötzlich verschwunden. Die Mutter sucht sie verzweifelt, doch erfolglos. Sie gibt ihre Ängste auf und beginnt zu kämpfen, tut alles, um ihre Tochter wieder zu haben. Sie willigt sogar ein, sich mit dem ehemaligen Freund zu treffen, von dem sie sich distanziert hatte, als er für die Regierung zu arbeiten begann. Sie belagert Polizeibüros, lässt sich nicht mit faulen Antworten abfertigen. Sie will ihre Tochter zurückhaben, und es gelingt ihr. Doch zu welchem Preis?
Das junge Liebespaar: Borhène und Farah
Leyla Bouzid, eine erfolgreiche Newcomerin
Leyla Bouzid, die Regisseurin von «As I Open My Eyes» (Kaum öffne ich meine Augen), wurde 1984 in Tunis geboren. Sie wuchs mit Leidenschaft für Bilder und Geschichten auf. Mit 16 Jahren stiess sie zum Amateurfilmklub, wo sie lange für sich behielt, dass sie die Tochter des berühmten Filmemachers Nouri Bouzid ist. 2003 ging sie nach Paris und studierte an der Sorbonne französische Literatur. Nachdem sie einen ersten Kurzfilm gedreht hatte, beendete sie das Studium in der Regieklasse an der Filmhochschule Fémis. Ihr Abschussfilm, den sie einige Monate vor der Revolution in Tunis gedreht hatte, gewann den Grossen Preis der Jury am Festival Premiers Plans in Angers und erhielt am Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrant viel Beachtung. Es folgte ein Kurzfilm, den sie in Südfrankreich mit Laiendarstellern realisierte. Zwischenzeitlich arbeitete sie als Regieassistentin beim Spielfilm «La vie d'Adèle» von Abdellatif Kéchiche und nahm danach ihren ersten Spielfilm, «As I Open My Eyes», in Angriff. An der Mostra de Venezia 2015 wurde der Film mit dem Publikumspreis und dem Europäischen Kinopreis ausgezeichnet. Teilnahmen an weiteren Festivals brachten ihr zusätzliche Preise: für den besten Erstling, den Publikums- und Jurypreis, den Preis für die beste Hauptdarstellerin.
«Kaum öffne ich meine Augen»: eine Metageschichte in den Songs
Die (Mezwed-)Musik und der Tanz waren immer schon Ventile in Tunesiens Volkskultur. Der irakische Oud-Spieler und Komponist Ghassen Amami als Song-Writher, Khyam Allami als Musiker und die Band haben den richtigen Ton getroffen, der sowohl die private Liebes- und Leidensgeschichte nachempfinden, als auch die damalige gesellschaftliche Situation Tunesien verstehen lässt. Songs durchziehen den ganzen Film und bilden so etwas wie eine überlagerte Metageschichte. Hier einige der poetischen Texte, die zum Nachdenken anregen:
«Wenn ich diese Welt sehe, voller verschlossener Türen, dann mache ich in meiner Trunkenheit die Augen zu. Jedes Mal sehe ich ein Mädchen vor mir. ... Langeweile überlebt niemand, ob trunken oder nüchtern. Dein Kopf platzt durch die Erstarrung, da hilft weder Medizin noch Weihrauch. ... Wenn ich die Augen öffne, sehe ich die ins Exil gedrängten Menschen, die die Meere überqueren, auf ihrer Pilgerfahrt in den Tod. ... Wo auch immer du hingehst, du stehst vor einer Mauer. Und da stehst du und drehst dich. Und wenn du dich jemals an etwas erfreust, bricht alles über dir zusammen. Du stehst auf und drehst durch. ... Wenn ich die Augen öffne, sehe ich alle, beraubt ihrer Arbeit, ihres Essens, fern ihrer Nachbarn. Verachtet, gekränkt, stecken sie bis zum Hals in der Scheisse. Atmen durch die Schuhsohlen ihrer Füsse. ... Ausserhalb der Gemeinschaft, geradewegs in Richtung Wahnsinn. Wie der Vogel der Nacht zünde ich die Lunte an. ... Ich sehe eine zerstörte Welt, hoffnungslose Schicksale und viele erloschene Herzen. Ich entfliehe dem Unausweichlichen. Ihre Gewehre sind geladen, ihre Hunde sind rasend. Wir fragen, was sie entfesseln wollen.»
Mutter Hayet mit Tochter Farah
Leidenschaft und Dramatik: privat und gesellschaftlich
Ein wunderbarer, dynamischer und bewegender Film ist «As I Open My Eyes». Er schildert den Zustand der Menschen in Tunesien kurz vor dem Ausbruch des arabischen Frühlings. Wegen der klugen Dramaturgie, der mitreissenden Musik und der entfesselten Kamera von Sébastien Goepfert wurde dieser Erstling von Leyla Bouzid das, was er jetzt ist: ein künstlerisches und menschliches Dokument von höchster Qualität. Wie in konzentrischen Kreisen läuft die Handlung ab und verdichtet sich die Geschichte.
Im Mittelpunkt steht das junge Paar, Farah und Borhène. In diesem innersten Kreis ist bereits alles angelegt, was die Dramatik des ganzen Filmes ausmacht: Anziehung und Abstossung, Liebe und Hass, Annäherung und Trennung, Traditionen und Ausbruch. Den zweiten Kreis bildet die ganze Familie: die Tochter Farah, ihre Mutter Hayet, ihr Vater Mahmoud, bei welchen die Thematik der Freiheit und Anpassung, aber auch die Schwierigkeit der doppelten Loyalität deutlich zum Tragen kommen. Und drittens weitet sich der Kreis aus. Differenziert ausgeführt in der Person von Ali, zwischen Farah und Borhène in der Band, Inès, im Haushalt zwischen Farah und Hayet, sowie Ska, der ehemalige Freund der Mutter, der in den Staatsdienst aufgestiegen ist, sowie Sami, der Spion und Verräter.
Der seelische, körperliche und gesellschaftliche Druck, der auf allen lastet, erfordert von ihnen das Äusserste. Die hinterhältige Unterdrückung der Freiheit der Bürger und die verlogene Wohlanständigkeit der Gesellschaft bringen unendliches Leiden und zerstören Spontaneität, Lebenslust und Freude. Doch die verdrängte Lust und Leidenschaft findet immer wieder Ritzen, wo sie durchkommt, trotz Kontrolle, Überwachung und Terror. In diesem Kampf wird der Film, der konkret über eine Geschichte in Nordafrika erzählt, allgemeingültig. «As I Open My Eyes» von Leyla Bouzid ist ein Gleichnis menschlicher Hoffnung und Lebenslust. Er ist ein Dokument für das, was den Menschen zum Menschen macht.
Die Rock-Band
Aus einem Gespräch mit Leyla Bouzid
Der Film spielt in der Ära Ben Ali, aber das Drehbuch entstand erst nach seiner Absetzung. Wie entwickelte sich die Arbeit bezüglich der historischen Veränderungen in Tunesien?
Als die Revolution im Gang war, spürte man rundum den Willen, sie filmend festzuhalten und abzubilden. In dieser Zeit entstanden viele hoffnungsvolle und zukunftsgerichtete Dokumentarfilme. Auch ich verspürte grosse Lust, zu filmen. Ich wollte zeigen, was wir erlebt und erlitten hatten: den erstickenden Alltag, die Allmacht der Polizei, die Überwachung, die Angst und die Paranoia, die die Tunesier in 23 Jahren angesammelt hatten. Die Revolution überraschte die ganze Welt, kam aber nicht aus dem Nichts. Für mich war klar, dass man die Vergangenheit schnell angehen musste, solange der Wind der Freiheit noch wehte. Es war entscheidend, dass die Gefühle der Figuren in sich stimmig waren und im Sinne der erzählten Geschichte kohärent. Es ging darum, ehrlich zu sein in der Fiktion und seiner kontextuellen, historischen Verankerung.
Waren Sie sich während der Dreharbeiten bewusst, dass die Freiheiten bereits wieder beschnitten wurden? Befürchteten Sie nicht, die Epoche Ben Ali vor Ihrer Kamera aufleben zu sehen?
Ich war mir vor allem bewusst, dass ich den Film schnell fertigstellen musste, solange noch Zeit war. Und dass es wichtig war, die Angst der Leute unter Ben Ali zu zeigen, die Aspekte jener Jahre, die man nicht mehr wollte, sie festzuhalten als eine Art Schutzschild gegen ein mögliches Wiederaufflammen. Während des Drehs merkte ich, dass viele diese Jahre schon vergessen hatten. Die Leute haben die Reflexe jener Epoche verloren und auch die Erinnerung an die damaligen Ängste. Das ist unter gewissen Gesichtspunkten gar nicht so schlecht, es ist, als hätten wir es bereits hinter uns. Auf der andern Seite muss man sich aber gegen den Gedächtnisschwund wehren. Das ist eine der Funktionen des Kinos.
Sie sprechen von Angst gegenüber dem Polizeiapparat, aber es gibt auch die Bedrohung durch den Terrorismus, die schwer auf Tunesien lastet. Die Religion ist zudem im Film völlig abwesend.
Im Fokus steht die aktive, aufbrausende Jugend, die Musik und Konzerte machen will, die sich künstlerisch ausdrücken möchte. Die Religion steht in ihrem Leben nicht im Vordergrund. Mich interessierte es, diese energiegeladenen und kreativen jungen Menschen zu filmen. Eine Jugend, die täglich für ihre schiere Existenz kämpft und von der man selten spricht. Die Einzigen, die in den Medien regelmässig einen Platz bekommen, sind jene, die sich dem Extremismus oder der Gewalt hingeben. Mir scheint es wichtig darauf hinzuweisen, dass es auch eine vom Leben getragene Jugend gibt, und ich wollte ihr mit Farah eine Stimme geben, zeigen, dass sie von einem Terror mundtot gemacht wird, der aus dem System selbst kommt.
Sie filmen den Untergrund von Tunis, das Nachtleben, Bars und Züge, sehr männliche Orte, die wir mit dem Blick der Frau betreten. Und Sie gehen bis ins Hinterland, ins Bergbaurevier.
Auf dem Dreh war es konkret in der Szene, als Hayet in die Bar kommt, die heikelste Szene überhaupt. Die Statisten waren die richtigen Gäste einer Bar mit zweifelhaftem Ruf. Bei jeder Wiederholung musste die Schauspielerin von Neuem die Bar betreten und es war jedes Mal wie eine Prüfung. Die Männer, immerhin Statisten, musterten sie mit insistierendem Blick von unten bis oben, beinahe obszön, ohne dass man es von ihnen verlangt hätte. Alle anwesenden Frauen im Team spürten den Druck, der von diesem Blick ausging. Es war mir ein Anliegen, wahre Orte zu filmen und deren Alltagsatmosphäre einzufangen, mit Menschen, die sich dort bewegen und arbeiten. Der Vorortszug, die Bars, der Busbahnhof sind dokumentarisch gefilmt. Ich wollte die Fiktion in diese lebendigen und vibrierenden Orte der Stadt einpflanzen, bis zur staubigen Phosphatmine, ein Hort des Widerstands unter Ben Ali, wo die Arbeiter sich selbst spielen. Es ist eine Hommage an die Minenarbeiter, die auch heute noch im Konflikt stehen mit dem Machtzentrum, und die Erinnerung daran, dass es zu allererst ihr Widerstand war, der das Land auf den Aufstand vorbereitet hatte. Ihr Widerstand hatte 2008 begonnen, lange vor dem berühmt gewordenen Akt von Bouazizi.
Regie: Leya Bouzin, Produktion: 2015, Länge: 102 min, Verleih: trigon-film