Bal (Honig)
Yusuf, ein Knabe, der die Unterstufe im fernen Dorf besucht, hat das Haus verlassen, tritt an den Kesselrand und betrachtet den Mond im Wasser. Er kniet nieder, und beim Berühren des Kessels kommt der Mond leicht ins Schwanken. Yusuf greift nach ihm, indem er seine Hände zu einer Schale formt. Es ist, als wolle er den Mond im Kessel schöpfen, aber in der Unruhe, die er dadurch in die Wasserfläche bringt, verschwimmt das Bild des Mondes, das eine Spiegelung war, es löst sich auf. Erst als Yusuf seine Hände wieder aus dem Eimer nimmt, beruhigt sich das Wasser, wird der Mond wieder erkennbar. Dasselbe wiederholt sich, als der Junge seinen Kopf in den Eimer steckt, als wolle er hinter den Mond auf den Kesselgrund schauen und tiefer noch.»
Wer diese einfühlsame Schilderung einer Sequenz des Films «Bal» (Honig), geschrieben von Walter Ruggle, geniessen kann und wen sie neugierig macht, wird auch vom Film des Türken Semih Kaplanoğlu berührt, bereichert und beglückt werden. Wer damit wenig anfangen kann, dem wird wahrscheinlich auch der Film nicht gefallen.
Die äussere Handlung ist in drei Sätzen erzählt: Ein Mann und eine Frau leben mit ihrem Sohn auf einem abgelegenen Hof in den türkischen Bergen. Er arbeitet als Imker in den Wäldern, sie hilft im Teeanbau, der Knabe besucht die Schule im entfernten Dorf. Eines Tages bricht der Vater zur Arbeit auf, Sohn und Mutter warten mit zunehmender Beunruhigung auf seine Rückkehr.
Was der Regisseur jedoch aus dieser vordergründig banalen Story macht, ist ein filmisches Wunderwerk. Mir ist kein Film bekannt, der ähnlich überzeugend die Natur in ihrer ganzen Breite und Tiefe darstellt, in sie eindringt und uns eindringen lässt. Seine Bilder und Töne weisen immer auf ein Innen, das in Worte zu fassen, mir schwer fällt, selbst wenn die Fachwelt von einem Meisterwerk spricht (Goldener Bär in Berlin 2010), das gewöhnliche Publikum völlig in sich gekehrt nach dem Film den Kinosaal verlässt, ich selbst tief betroffen bin.
Mit «Bal» schliesst Kaplanoğlu eine Trilogie ab, die er mit «Yumurta» (Ei) begonnen und mit «Süt» (Milch) fortgesetzt hat. In allen drei Teilen geht es um Yusuf: im ersten als Vierzig-, im zweiten als Zwanzig- und im dritten als Sechs- bis Siebenjährigen. (In der Schweiz werden die Filme nicht in der Reihenreihenfolge der Entstehung, sondern entsprechend dem Älterwerden des Protagonisten gezeigt.) Jeder Film ist in sich geschlossen, und ohne die andern verständlich, ein selbständiges Kunstwerk.
Albert Einseins Satz «Wenn die Biene stirbt, stirbt auch der Mensch» könnte als ökologisches Selbstverständnis und humanistisches Bekenntnis hinter dem Werk stehen. Er besagt hier, dass die Bienen die Pflanzen befruchten, die Pflanzen die Menschen ernähren und beglücken, die Menschen den Bienen den Fortbestand sichern und so weiter und so fort. Dieser ewige Kreislauf der Natur, aufgezeigt beim biologischen Befruchten, verweist auch auf das geistige Befruchten, welches durch die menschliche Begegnung, so Martin Buber, als Fundament der Bildung verstanden werden kann. Im Bild der Bienen dürften noch weitere Bedeutungen des Menschenlebens aufleuchten, zurückhaltend, behutsam und poetisch angedeutet. Von «spirituellem Realismus» spricht Kaplanoğlu.
Zwei Träume werden im Film erzählte. Den ersten darf Yusuf seinem Vater nur ins Ohr flüstern, wir erfahren ihn nicht. Den zweiten, den die Mutter nach langem gemeinsamem Schweigen ihrem Sohn erzählt, hören wir auch mit: «Ich habe gestern Nacht einen sehr schönen Traum gehabt. Dein Vater, du und ich waren wir unterwegs zum Bach, um Bienenstöcke aufzustellen. Unterhalb des Bachs gibt es eine Stelle, wo wir sie immer aufgestellt haben. Dann sah ich eine Blume. Ich bückte mich, um sie zu pflücken. Ich legte sie in meinen Korb, um sie zu Hause neu einzupflanzen. Zu Hause angekommen, sahen wir, dass alles voll war mit Blumen wie dieser. Die Küche, das Zimmer.» Ein Gleichnis wohl über das freie und von Menschen unbeeinflusste Wirken der Natur.
Neben der Natur mit Tieren und Pflanzen steht ein Kind im Mittelpunkt des Films: die Kindheit eines Menschen, vielleicht gar die Kindheit der Menschheit. Der Bub erwacht, wächst auf und wird, was er sein soll. Das Aufwachsen dieses jungen Menschen führt der Film dem Publikum sinnlich, eindrücklich und mit viel Zeit vor Augen. Wie schwierig der Einstieg ins Leben, dieses Werden und Wachsen doch sein kann! Wir erleben Yusuf, wie er stotternd zu lesen versucht, in die Welt der Bildung eintritt, dabei am Anfang von den Kameraden verlacht, dann von einem grossartigen Lehrer belohnt und von den Mitschülern beklatscht wird. Dann erlebt er den Tod des Vaters, den grossen Schicksalsschlag, der in dieser oder andern Form zum Leben gehört: anfänglich als böse Vorahnung, dann als Tatsache, als Initiation in die Endlichkeit des Lebens.
Eine echte Sensation, eine sinnliche Erfahrung erlebt Yusuf und erleben wir mit ihm. Mit seinen Sinnen erfahren wir den Anfang des sozialen Lebens: mit Schauen, Staunen, Entdecken, Träumen, Begreifen, verweilend in langen bis sehr langen Einstellungen, so in der nicht enden wollenden Plansequenz am Anfang. Die Geschichte bleibt Nebensache, Hauptsache ist die Sensation des Lebens. Arthur Rimbaud hat Ähnliches im Gedicht «Sensation» beschrieben, das im Film von einer Schülerin gelesen wird. (Nachfolgend der Originaltext, die Übersetzung desselben und weitere ausgezeichnete Texte zum Film finden sich im Heft 51 des TrigonMagazin, das in den Kinos, die den Film spielen, aufliegt.)
Sensation
Par les soirs bleus d’été, j’irai dans les sentiers,
Picoté par les blés, fouler l’herbe menue:
Rêveur, j’en sentirai la fraîcheur à mes pieds.
Je laisserai le vent baigner ma tête nue.
Je ne parlerai pas, je ne penserai rien:
Mai l’amour infini me montera dans l’âme,
Et j’irai loin, bien loin, comme un bohémien,
Par la Nature, – heureux comme avec
Une femme.
«Der Rest ist Schweigen» steht voll Verzweiflung am Schluss des «Hamlet». «Der Rest ist Schweigen» steht mit Glückgefühlen am Schluss des Films «Bal»: ein Schweigen, aus dem die Worte erst noch zu finden sind, zusammen mit Yusuf, einem neuen, andern «Kleinen Prinzen».